Mehr Kinder mit psychischen Problemen: Versmolds Expertinnen sind alarmiert

Versmold. Der Kindergesundheitsbericht 2023 der &bdquo;Stiftung Kindergesundheit“ spricht eine deutliche Sprache. &bdquo;Die psychische Belastung bei Jugendlichen hat insbesondere während der Covid-Pandemie zugenommen. So ist ein allgemeiner Anstieg von emotionalen Störungen und Suizidversuchen zu verzeichnen“, lautet eine zentrale Erkenntnis zum Punkt &bdquo;Mentale Gesundheit“. Die Adoleszenz stelle dabei &bdquo;eine besonders anfällige Phase für psychische Störungen“ dar. Die Hilfs- und Therapieangebote allerdings reichen nicht aus, um den zunehmenden Bedarf zu decken. Wie sieht die Situation in Versmold aus? Kinder und Jugendliche mit vielfältigen Probleme Von einer &bdquo;auffälligen Schwere der Themen“, mit denen Kinder zu ihr kommen, berichtet Schulsozialarbeiterin Stephanie Skurk. &bdquo;Ganz selten steht ein Thema allein“, sagt sie. Im Schulalltag geht es da oft um Konflikte unter Schülern, um Mobbing, Gewalt, schwierige Familiensituationen oder Schulangst bis hin zu Absentismus. Manches ist in einigen Gesprächen zu klären, anderes braucht intensive Unterstützung. Auffällig ist, das schilderten die Versmolder Schulsozialarbeiterinnen neulich in ihrem Jahresbericht, dass psychische Probleme zunähmen. Zudem belasteten psychische Erkrankungen der Eltern oftmals die Kinder. Frühzeitige Hilfen sind wichtig Die Schulsozialarbeiterinnen sehen das mit großer Sorge und sind alarmiert. Wichtig ist aus ihrer Sicht, dass mit Hilfsangeboten &bdquo;früh genug angesetzt wird, bevor sich Probleme manifestieren“, so Stephanie Skurk. Doch die Wartelisten bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind oft lang. &bdquo;Der Bedarf ist mit den vorhandenen Ressourcen nicht zu decken.“ Oft ein Jahr Wartezeit bis zur Therapie In der Psychotherapeutischen Praxis für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an der Bielefelder Straße 12 in Versmold liegt die Wartezeit für einen Therapieplatz zurzeit etwa bei einem Jahr. Erstgespräche werden innerhalb weniger Wochen ermöglicht. &bdquo;Uns ist bewusst, dass viele hilflos sind und sich von den Praxen Unterstützung erhoffen“, sagt Nadja Köhler. Sie hat sich zusammen mit ihrer Kollegin Anna-Lena Westarp Zeit für ein Gespräch mit dem &bdquo;Haller Kreisblatt“ genommen. Beide sind studierte Diplom-Pädagoginnen, die am ZAP-Lehrinstitut in Bad Salzuflen ihre Psychotherapeutische Ausbildung absolvierten. Praxis bietet geschützte Wohlfühlatmosphäre Die Praxisräume an einer der Hauptdurchfahrten Versmolds liegen etwas versteckt hinter einem Zaun und Parkplätzen in einem Wohnhaus-Komplex. Das Schild fällt von der Straße aus gesehen kaum auf. Wer nicht weiß, dass sich hier eine Psychotherapeutische Praxis befindet, kann sie leicht übersehen. An dem Morgen, als das &bdquo;Haller Kreisblatt“ klingelt, öffnet Anna-Lena Westarp die Tür zur Praxis im Erdgeschoss. Ein kleiner Flur, rechts die Küche, links das Büro und ein weiterer Raum, geradeaus geht es ins Herzstück: Es ist eine Mischung aus gemütlichem Wohnzimmer mit Blick in den Garten und Spielzimmer. Fast wie in einer normalen Mietwohnung mit Atmosphäre zum Wohlfühlen. Seit 2022 gemeinsame Praxis in Versmold Die Praxis an der Bielefelder Straße gibt es bereits viele Jahre - Nadja Köhler und Anna-Lena Westarp sind relativ neu in Versmold. Zuvor praktizierte hier Ingrid Klostermann. Im Sommer 2019 kam Nadja Köhler hinzu, zunächst mit einer sogenannten Abrechnungsermächtigung. Als sich Praxisinhaberin Klostermann dazu entschied, den Kassensitz abzugeben, kam Anna-Lena Westarp hinzu. Anna-Lena Westarp ist Verhaltenstherapeutin, Nadja Köhler hat den Schwerpunkt &bdquo;Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie“. Seit Oktober 2022 sind Köhler und Westarp mit jeweils einem halben Kassensitz in Versmold tätig und sicherten damit den Praxisstandort. Sie hätten diesen auch anderswo in den Kreis Gütersloh verlegen können. &bdquo;Das stand überhaupt nicht zur Debatte“, sagt Nadja Köhler und weiß, wie wichtig wohnortnahe Versorgung ist, gerade im Kinder- und Jugendbereich. Großer Verlust für den Gesundheitsstandort Versmold Als &bdquo;bedauernswert“ bezeichnet die 41-Jährige den Weggang der Psychotherapeutischen Praxis von Dr. Julia Lange. Sie hatte nach zwei Jahren Versmold wieder verlassen und einen Kassensitz in Bad Rothenfelde übernommen. Im Kreis Gütersloh gestaltete es sich für die Diplom-Psychologin schwierig, einen Sitz auf Dauer zu bekommen. Denn laut Bedarfsplan der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gilt der Bereich als ausreichend versorgt - wie die meisten Facharztrichtungen auch. Ein Politikum, das sowohl Praxen als auch Patienten zu spüren bekommen. Für Anna-Lena Westarp und Nadja Köhler ist klar, dass es einen &bdquo;besseren Zugang zur Gesundheitsvorsorge“ braucht. &bdquo;Es darf eigentlich nicht sein, dass Kinder und Jugendliche ein Jahr auf einen Therapieplatz warten müssen“, sagt Anna-Lena Westarp (39). Corona und die Folgen für die Psyche Den gestiegenen Bedarf führen die beiden Expertinnen auf verschiedene Faktoren zurück. &bdquo;Corona war wie ein Booster“, schildert Nadja Köhler. &bdquo;Vielen wurde der Boden unter den Füßen weggerissen.“ Fehlendes Vereinsleben, weniger Jugendarbeit, kaum Sozialkontakte über die Schule - durch die Einschränkungen in der Pandemie seien Probleme und Belastungen junger Menschen verschleppt worden. &bdquo;Wenn sie sich länger festgesetzt haben, dann wird es komplexer“, erklärt Anna-Lena Westarp. Fachleute sprechen von einer Chronifizierung. Auffallend ist die hohe Anzahl an Schulproblemen wie Schulangst bis hin zum Absentismus sowie soziale Phobien und emotionale Probleme. Das schildern auch die Versmolder Schulsozialarbeiterinnen in ihrem Bericht übereinstimmend. Kinder und Jugendliche, die es ohnehin schon schwer hatten, für die seien Lockdown und Wechselunterricht teilweise dramatisch gewesen. Die Folgen sind bis heute spürbar. Falsche Vorbilder und fehlende Orientierung Dazu kommen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. &bdquo;Das, was in der Welt so los ist, beschäftigt die jungen Menschen“, sagt Nadja Köhler. Diese diffuse Unsicherheit sei für einige schwer auszuhalten. Negative Nachrichten habe es früher auch gegeben, aber sie seien einem nicht in der Schlagzahl vor Augen geführt worden, beispielsweise durch Soziale Medien. &bdquo;Das Leben ist insgesamt komplexer geworden.“ Kollegin Anna-Lena Westarp macht ein &bdquo;hohes Bedürfnis an Orientierung und Sicherheit“ aus. Zu viele Wahlmöglichkeiten und zu wenig Reglementierungen könnten den Nachwuchs überfordern. &bdquo;Für manche Persönlichkeitstypen wäre es besser, wenn es einen klaren Weg gebe.“ Weitere Ursachen: falsche Vorbilder gerade in den Sozialen Medien oder fehlende Widerstandskraft für schwierige Lebenssituationen (Resilienz). Hinweise auf psychische Probleme bei Kindern Doch wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind Hilfe braucht? Grundsätzlich, so sagen die Expertinnen, sollten Eltern immer dann hellhörig werden, wenn sie das Gefühl haben, dass Kind verändere sich auffallend stark, stagniert in seiner Entwicklung oder macht Rückschritte. &bdquo;In einem gewissen Maß ist das in Ordnung“, sagt Nadja Köhler. Aber übermäßiger Rückzug beispielsweise oder ein sehr eingeschränktes Sozialleben können Anzeichen dafür sein, dass ein Kind oder Jugendlicher Hilfe benötigt. Dabei spielen Zeitraum und Maß für ein Verhalten immer eine Rolle. Expertinnen geben Eltern Ratschläge Wichtig sei es dann, mit den Kindern vorsichtig ins Gespräch zu kommen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. &bdquo;In einem Moment, in dem es gerade gut passt. Ich kann zum Beispiel sagen: Mir ist aufgefallen, dass ...“, empfiehlt Nadja Köhler. Einen Ratschlag haben die beiden Fachfrauen für Eltern ganz grundsätzlich: der Intuition vertrauen. Das können weitere Warnzeichen sein Bei jüngeren Kindern sind Wut und Aggression immer ein Warnzeichen. &bdquo;In anhaltendem Maß ist das ein Hinweis darauf, dass es dem Kind nicht gut geht“, beschreibt Anna-Lena Westarp. Ein weiteres Alarmsignal: Kopf- oder Bauchschmerzen, unter denen ein Kind immer wieder leidet. Wenn der Kinderarzt körperliche Ursachen für die Symptome ausgeschlossen hat, geht der Weg oftmals zum Psychotherapeuten. Hier bekommen Familien Hilfe Die Versmolder Praxis gehört zum KJP OWL, einem Zusammenschluss von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Ostwestfalen-Lippe. Auf der Internetseite finden sich eine Liste der approbierten Psychotherapeuten sowie eine Übersicht über weitere Hilfsangebote: www.kjp-owl.de. Anlaufstellen können außerdem sein: die Tagesklinik in Warendorf mit angegliederter Ambulanz oder die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in Bielefeld und Osnabrück. Nadja Köhler und Anna-Lena Westarp raten außerdem dazu, sich bei der jeweiligen Krankenkasse zu informieren.

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