Versmolderin in Auschwitz: Engagement am Ort mit grauenvoller Geschichte

Versmold. In Oswiecim ist man um Normalität bemüht. Das war eine der ersten Lektionen, die Hanna Negraszus nach ihrer Ankunft in Polen gelernt hat. Vor gut fünf Wochen ist die 18 Jahre alte Versmolderin wie berichtet aufgebrochen, um ein Freiwilliges Soziales Jahr in der 40.000-Einwohner-Stadt zu absolvieren. Eine Aufgabe, die ihr in ihrem Umfeld viel Respekt eingebracht hat. Denn Oswiecim ist die Stadt, die im Deutschen Auschwitz genannt wird und in der in den Jahren 1940 bis 1945 unter der deutschen Besetzung rund 1,5 Millionen Menschen meist jüdischer Herkunft in KZs ermordet wurden. Hanna Negraszus ist mit der Schule vor zwei Jahren zum ersten Mal in der Gedenkstätte Auschwitz gewesen. Das Gesehene dort hat sie nicht mehr losgelassen. &bdquo;Es ist so wichtig, die Erinnerung an all das wachzuhalten", sagt sie. Das war ihr Antrieb, sich mehr mit der Geschichte zu beschäftigen – und nun sogar selbst vor Ort aktiv zu werden. &bdquo;Wir sind hier, um aus der Vergangenheit zu lernen" Ihr Einsatzort liegt drei Kilometer von der Gedenkstätte entfernt. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte, kurz IJBS genannt, ist ein Ort, an dem Jugendgruppen sich mit der Geschichte und dem, was sie beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers erleben, auseinandersetzen können und sollen. &bdquo;Wir sind in der Stadt Oswiecim, um uns an Auschwitz zu erinnern. Um zu überzeugen, dass wir aus der Vergangenheit lernen müssen. Wir zeigen, dass Oswiecim ein Ort der Begegnung, der Versöhnung und der Verständigung sein kann. Wir sind in der Stadt Oswiecim, damit Auschwitz sich nicht wiederholt", lautet der Leitsatz auf der Homepage der IJBS, die von einer gemeinsamen Stiftung der Aktion Sühnezeichen und der Stadt Oswiecim getragen wird. Hanna Negraszus’ Aufgabe ist es, die Besuchergruppen im IJBS zu betreuen, zu begleiten und als Ansprechpartnerin für alle Fragen rund um das Haus und die Stadt zur Verfügung zu stehen. Dabei hatte sie in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft selbst genügend Fragen. Hanna spricht kein Wort polnisch Mit dem Flixbus hatte sie die 16-stündige Reise von Brackwede nach Oswiecim angetreten. Ohne ein Wort Polnisch zu können, hatte sie sich mit dem Google-Übersetzer auf ihrem Handy durchgeschlagen. &bdquo;Am Anfang war ich total geschockt und habe gedacht: Wie soll ich mich denn hier jetzt verständigen und wie schaffe ich es, hier zu leben?", gibt sie ehrlich zu. Inzwischen haben sie und die anderen Freiwilligen regelmäßig eine Doppelstunde Polnischunterricht. Das hilft erstmal und natürlich sorgt auch der Kontakt zu den anderen freiwilligen Jugendlichen dafür, dass das erste Heimweh gut überwunden wurde. Über die Aktion Sühnezeichen sind noch jeweils eine Helferin aus Deutschland und der Ukraine im IJBS. Im Jüdischen Zentrum in Oswiecim arbeiten vier junge Leute aus Österreich, Deutschland und der Ukraine. Mit ihnen verbringt Hanna Negraszus ihre Freizeit nach den manchmal recht langen Arbeitstagen. Auschwitz nicht nur touristisch abhaken! Direkt nach ihrer Ankunft hat die Versmolderin erst einmal eine ganze Woche lang bei Gruppen im IJBS hospitiert, um zu lernen, auf was es bei der Arbeit ankommt. &bdquo;Unser Haus legt sehr viel Wert darauf, nicht nur zurückzublicken, sondern vor allem für die Zukunft etwas zu lernen", sagt sie. Etwa 90 Prozent der Gruppen, die im IJBS untergebracht sind, kommen aus Deutschland. &bdquo;Sie nehmen sich wirklich Zeit und bleiben etwa eine Woche", sagt Hanna Negraszus. Vier bis fünf Tage sei das Minimum, das man für eine Reise nach Auschwitz einplanen solle, findet die 18-Jährige. Es sei nicht mit einem bloßen Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers getan. Man brauche eine gute Vor- und Nachbereitung und müsse schließlich auch all das Schreckliche verarbeiten, das man dort gesehen und gehört habe. Vor zwei Wochen war sie in Krakau. &bdquo;Dort werden touristische Touren angeboten, bei denen man erst nach Auschwitz fährt und später noch die Salzminen in der Nähe besucht", berichtet Hanna Negraszus. &bdquo;Das finde ich irgendwie makaber und es wird dem Ganzen nicht gerecht. Wenn man Auschwitz nur touristisch abhaken will und den Ort nicht würdigt, dann soll man lieber zu Hause bleiben" – hier hat sie eine ganz klare Haltung. &bdquo;Auf der anderen Seite vom Fluss gibt es ein ganz normales Leben" Sie selbst ist zwar nicht regelmäßig in der Gedenkstätte, bringt ihre Gruppen aber dorthin und ist während der Arbeitszeit dauerhaft mit dem Thema Auschwitz konfrontiert. Wie kommt die junge Frau damit zurecht? Sie versucht, sich der Sache professionell zu stellen. &bdquo;Ich kenne die Informationen, über all das Schreckliche, was dort passiert ist. Emotional ist das Ganze sowieso nicht zu begreifen", sagt sie. &bdquo;Nach der Arbeit mache ich mein Ding und beschäftige mich mit anderen Sachen, um mich seelisch nicht zu sehr zu belasten." So halten es auch die Einwohner von Oswiecim. &bdquo;Die Stadt versucht, nach vorne zu blicken und zu betonen, dass es auf der anderen Seite vom Fluss ein ganz normales Leben gibt", sagt Hanna Negraszus, zu deren Aufgaben auch Stadtführungen zählen. &bdquo;Die Stadt bietet so viel mehr als das KZ, darauf konzentriert sich die Führung." Zweieinhalb Stunden zeigt sie den Gruppen, was sehenswert ist. Dazu gehört der jüdische Friedhof ebenso wie der belebte Marktplatz. Die Geschichte wachhalten und gleichzeitig klarmachen, dass man die Vergangenheit ruhen lässt – das ist der Spagat, den die junge Versmolderin zu bewältigen hat. Nicht immer gelingt die professionelle Distanz Doch immer gelingt das mit der professionellen Distanz auch nicht. Dazu sind viele Begegnungen einfach zu bewegend. So wie die vor zwei Wochen, als der polnische Journalist und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Marian Turski im IJBS war. Der 95-Jährige war von 1944 bis 1945 selbst in Auschwitz. &bdquo;Das war so beeindruckend", sagt Hanna Negraszus ehrfürchtig. &bdquo;Ich hätte nicht gedacht, dass ich einen Überlebenden hier persönlich treffen könnte. Das hat mir noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, dass ich hier bin."

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