Versmold. Eines ist den beiden Medizinern wichtig zu betonen: Praktizierende Kollegen vor Ort hätten ihnen gegenüber Bereitschaft bekundet, Patienten, die von der Praxisschließung betroffen sind, aufzunehmen. Gerade chronisch kranke Menschen müssten möglichst wohnortnah versorgt werden. Ob dies über lange Sicht in Versmold noch gegeben sein werde? Das allerdings bezweifeln die Hausärzte vom Brüggenkamp.
„Ich sehe ein großes Versagen von Landes- und Bundespolitik", sagt Dr. Knut Jerzembeck. Zwei Entwicklungen verursachten einen Engpass in der medizinischen Versorgung, denen man nicht rechtzeitig gegengesteuert habe. Zum einen werde die Bevölkerung immer älter und damit steige der medizinische Bedarf. Zum anderen kämen die Babyboomer-Jahrgänge ins Rentenalter und es fehle – wie in anderen Branchen auch – an ausreichend Nachwuchs. „Dazu kommen Versmolder Probleme", sagt Jerzembeck und verweist auf die „etwas isolierte Lage" der Fleischstadt, die offenbar für junge Ärzte unattraktiv ist, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen.
Plötzlich Patient: Die eigene Gesundheit zwingt zum Schritt
Knut Jerzembeck und Praxispartner Berthold Lindheim mussten dies bei der Suche nach einem Nachfolger erfahren. Die Bemühungen blieben erfolglos und so verliert Versmold in wenigen Wochen eine Hausarztpraxis. Es wird vermutlich nicht die letzte sein, denn der Altersschnitt der praktizierenden Allgemeinmediziner vor Ort ist hoch. Das ist nicht neu. Rein rechnerisch ist die Versorgung schon heute unter dem Bundesschnitt. Die Bedarfsplanung sieht vor, dass auf einen Hausarzt 1.671 Einwohner entfallen. Etwa 1.900 sind es in Versmold. Mit dem Wegfall der Gemeinschaftspraxis am Brüggenkamp wird dieser Wert steigen. Und die Ruhestandswelle hat gerade erst angefangen, auf die Fleischerstadt zuzurollen. „Wir Einzelkämpfer sind ein aussterbendes Modell", sagt Dr. Knut Jerzembeck. Die Zukunft sehen er und Kollege Lindheim in an Kliniken angegliederte Portalpraxen und Gesundheitszentren, wo Mediziner im Angestelltenverhältnis praktizieren.
Den Aufwand einer eigenen Praxis – finanziell wie arbeitsmäßig – scheuen junge Kollegen oftmals. Die beiden Mediziner vom Brüggenkamp haben sich vor knapp 30 Jahren für genau diesen Weg entschieden und ihn nie bereut. Der Versmolder Jerzembeck und Berthold Lindheim aus dem Lippischen kennen sich aus der Studienzeit in Münster und sind in ihrer Freizeit Jäger. Als der Versmolder Arzt Dr. Schulte an die Wiesenstraße zog, wurde die Praxis am Brüggenkamp frei. Jerzembeck und Lindheim mieteten die Räume – und sind mit dem nur leicht veränderten Anfangsteam bis heute dortgeblieben.
„Ich hatte keine andere Möglichkeit"
Der Abschied fällt beiden nicht leicht und war so früh nicht geplant. Als Berthold Lindheim im vergangenen Sommer selbst am Herzen erkrankte, fiel der Entschluss. „Dass ich selbst mal krank und Patient sein würde, war mir bis dahin fremd in meinem Denken", gibt er zu. Und der ungewollte Rollentausch fiel dem Mediziner auch schwer. Auf einmal musste er, der sonst anderen half, sich in die Hand der Ärzte begeben. „Ich hatte keine andere Möglichkeit", sagt der 66-Jährige ganz trocken, um dann einzuräumen: „Die Herzklappenreparatur war schon ganz gut." Das darf als Lob gewertet werden.
Der tägliche Stress in der Hausarztpraxis ist für die eigene Gesundheit auf Dauer nicht förderlich. „Ein wichtiger Lebensabschnitt geht nun zu Ende", sagt Dr. Jerzembeck. Letzter Öffnungstag ist am 20. Dezember. Kaum vorstellbar, dass Schreibtisch und Bücherregal in der Praxis, die ihren ganz eigenen Charme hat, schon bald geräumt sein sollen.
So ganz hängen die beiden ihre weißen Kittel allerdings nicht an den Nagel. Berthold Lindheim übernimmt weiterhin Nacht- und Wochenenddienst in einer Rehaklinik. „Das Gefühl, gebraucht zu werden, ist Motivation", sagt er. Knut Jerzembeck arbeitet schon heute schwerpunktmäßig als Betriebsarzt und wird das auch weiterhin machen. Zudem eröffnet er an der Ravensberger Straße eine Privatarztpraxis. Dort wird sich der 65-Jährige zumindest um einen Teil seiner bisherigen Patienten kümmern. Die anderen werden sich Alternativen suchen müssen.
In den Versmolder Wartezimmern dürfte es demnächst voller werden.