Der Versmolder Willi Schneider war einer von Hitlers Kindersoldaten

Aus dem Fotoalbum des Zeitzeugens: Willi Schneider (rechts) und seine Freunde. | © Foto: privat

Melanie Wigger
26.01.2018 | 07.07.2025, 17:14

Versmold. Luftwaffenhelfer oder Flakhelfer – für diese Kriegsdienste wurden Minderjährige im Zweiten Weltkrieg an die Front geschickt. Als Hitlers Kindersoldaten gingen diese Jugendlichen in die Geschichte ein. „Kanonenfutter" sagt der 89-jährige Frisörmeister Willi Schneider zu diesem Posten, den er selbst als 16-Jähriger zugeteilt bekam.

Seinen Einberufungsbefehl erhielt der Bockhorster vor 75 Jahren von der Verwaltung per Post. Er musste sich in Marienfeld melden. Im Gegensatz zu vielen anderen Gleichaltrigen verließ er dafür nicht die Schulbank, wohl aber seinen Ausbildungsplatz als Frisör.

Ohne eine Spur von Angst seien er und seine Freunde angetreten. „Im Gegenteil, wir hatten sogar eine gewisse Begeisterung dafür." Mit der festen Überzeugung, dass Hitler mit der versprochenen „Wunderwaffe" die Deutschen zum Sieg führen würde, habe er seinem Dienst als Flakhelfer optimistisch entgegen geblickt.

„Wir wurden damals hinters Licht geführt"

Während seine Freunde an den Geschützen zugeteilt wurden, bekam Schneider eine besondere Aufgabe. „Ich hatte das Glück, dass ich in der Flakvermittlung eingesetzt wurde. So musste Schneider nicht ständig an den Geschützen stehen, sondern stattdessen Befehle von den Vorgesetzten an die Batterien weitergeben. „Nur zwei von zehn bekamen diese Stellung", erinnert der Bockhorster sich. Sein Ausbilder hatte sich für den 16-Jährigen eingesetzt, um ihn ein wenig aus der akuten Gefahrenzone zu bringen. Bei Angriffen verbarg sich Schneider in einem Bunker am Außenrand der Anlage.

Seine Freunde wurden hingegen zu Richtkanonieren ausgebildet, immer fünf an einem Geschütz. „Ihr Dienst war nicht schwer. Jeder hatte seine Handgriffe, die er beherrschen musste." Nach den Einsätzen erzählten die Freunde was sie erlebt hatten – beispielsweise wie sie dabei zusahen, als ein Unteroffizier getroffen wurde, der beim Abfeuern der eigene Waffe übersah, dass sich ein Flugzeug von hinten näherte. „Ein Platzpatrone traf in den Rücken. Das Geschoss ist in seinem Bauch zerplatzt", gibt Schneider mit verzerrter Miene wieder.

Obwohl der Ernst des Krieges nun das Leben der Jugendlichen erreicht hatte, änderte das an der Euphorie nichts: „Wir waren weiterhin vollkommen begeistert und felsenfest davon überzeugt, dass wir siegen würden." Heute verstehe er dieses Gefühl selbst nicht mehr. „Wir wurden damals hinters Licht geführt", das sei ihm jedoch erst nach dem Krieg klar geworden. Ob ihn das im Nachhinein wütend gemacht habe? „Man hat das hingenommen", sagt er achselzuckend.

Dabei musste er selbst den Verlust eines Bruders betrauern. In einem dicken Fotoalbum hat er noch Bilder von ihm: Ein gepflegter junger Mann, der durch eine Brille mit dicken Gläsern blickt. Der Jugendliche bekam gegen Kriegsende nur eine aufs Nötigste reduzierte Ausbildung: „Als er damit an die Front kam, ist er sofort gefallen."

Schneider hingegen hatte nicht nur als Luftwaffenhelfer Glück. Ein halbes Jahr nach seinem Einsatz als Flakhelfer im Juli 1944 wurde er zum Arbeitsdienst in Everswinkel eingeteilt. Bei dem Wort „Arbeitsdienst" muss Schneider spöttisch lachen, „das wurde sofort zu militärischen Ausbildung." Danach marschierte er mit den Soldatenzügen mit – eine Reise mit vielen brenzlichen Situationen: So auch an Ostern 1945 als mit seinen Kameraden und einer Gruppe Hitlerjungen gemeinsam die Dörenschlucht bei Detmold bewachte.

Nur kurz nachdem sie von einer Kompanie abgelöst wurden, wurde der Ort eingenommen. Ein Ereignis über das auch lokale Chroniken berichten. Bei der Schlacht am Gebirgspass im Teutoburger Wald sollen Deutsche trotz der alliierten Übermacht Widerstand geleistet haben. Über 100 Soldaten fielen im Kampf um das angrenzende Augustdorf.

„Jetzt waren ja die Feinde an der Macht"

Schneider – knapp entkommen – zog weiter. Seine Reise endete, als er von Hitlers Tod erfuhr. Als er gemeinsam mit zwei Freunden den langen Heimweg von Norddeutschland aus antrat, habe er es zum ersten Mal mit der Angst zu tun bekommen. „Jetzt waren ja die Feinde an der Macht."

Trotzdem klingt vieles von dem, was Schneider auf dem Sofa erzählt, wie in einem abenteuerlichen Jugendroman. Die Hauptfiguren suchen Schleichwege, gehen immer wieder in Deckung oder überwinden Hindernisse wie eingestürzte Zugbrücken. Doch die Gefahren sind real. „Wir hatten Angst vor allem davor, von russischen Zwangsarbeiter geschnappt zu werden." In einem Wald seien sie beinahe in eine Gruppen Russen gelaufen, die ihnen noch hinterher geschossen hätten.

Nach einem tagelangen Marsch mit entzündeten Blasen an den Füßen kamen die Jungen an. Was Schneider damals nicht wusste: Seine Familie hatte zwischenzeitlich die Meldung bekommen, ihr Sohn sei in der Dörenschlucht schwer verletzt worden. Schneider schlich ins Haus an den Frühstückstisch, nach dem er durch die geöffnete Tür beobachtet hatte, dass seine Mutter in den Keller gegangen war. Als diese zurückkam, „da hat sie ganz laut geschrien".