„Rechte wurden nur als Krakeeler gehört“: Steinhagener Forscher zur AfD

Steinhagen. 2015 beschwor Angela Merkel anlässlich zigtausender einreisender Flüchtlinge: &bdquo;Wir schaffen das!“. Heute ist die &bdquo;gesichert rechtsextreme“ AfD in weiten Teilen Deutschlands stärkste Partei, trotz offensichtlich verachtender Aussagen, wie dem &bdquo;Menschen entsorgen“, von MdB Petr Bystron. Der Psychologe Prof. Dr. em. Rainer Dollase gilt als Autorität in der Gesellschaftsforschung. Der Steinhagener arbeitete viele Jahre am &bdquo;Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ der Universität Bielefeld. Auch heute noch hat der 82-Jährige mehrere Lehraufträge inne. Wir haben mit ihm über den großen Erfolg der Rechten gesprochen, gemeinsam überlegt, was aus der &bdquo;Willkommensstimmung“ unter Angela Merkel geworden ist und ihn gefragt, wie es mit Deutschland weitergeht. Vor sieben Jahren haben sie im Steinhagener Rathaus über die Probleme bei der Integration von Ausländern gesprochen. &bdquo;Miteinander reden, Flüchtlinge willkommen heißen“ – in dieser Stimmung entstand unser damaliges Interview. Ich höre nur noch wenig von solchen Initiativen. Hat sich die Willkommensstimmung abgekühlt? Ja, die Stimmung hat sich abgekühlt. Ein normaler Vorgang übrigens. Die Zuwanderung ist normal geworden, man versteht die Probleme aller Seiten besser, versteht auch, dass Kriegsflüchtlinge zum Beispiel aus der Ukraine eventuell wieder zurückwollen – und man hat heute mehr Kenntnis von Asylmissbrauch. Zu versuchen, die anderen Perspektiven zu &bdquo;verstehen“, war damals eine Ihrer Kernforderungen. Mittlerweile ist die AfD erstarkt, selbst der neue Kanzler fordert ein schärferes Vorgehen in Sachen Migranten. Hat das &bdquo;Verstehen“ noch mehr nachgelassen? Ich würde nicht von einem Nachlassen des &bdquo;Verstehens“ sprechen – ich würde sagen: Das Bewusstsein der möglichen Probleme von Migration ist klarer geworden. Gerade bei Jugendlichen steht migrations- und queer-feindliches Gedankengut wieder höher im Kurs. TikTok, Instagram und Co. spielen dabei eine große Rolle. Müssen wir mit einer neuen rechten Generation rechnen? Deutschland ist überwiegend konservativ- viele im Labor der Elfenbeintürme erfundene Ideologien und Zeitgeistdiagnosen sind schlicht falsch, beziehungsweise gehen an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Das spiegeln Wahlergebnisse und Umfragen. Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz gegenüber sexuellen Orientierungen werden im Übrigen von erheblichen Teilen auch der Bevölkerung mit Migrationshintergrund getragen. Die Wirkung von TikTok, Instagram und Co. wird meines Erachtens überschätzt. Es sind eher tief sitzende kulturelle Ausrichtungen – zum Beispiel erhöhte Identifikation mit der eigenen Ethnie, Nation, Religion, der eigenen Familie und Verabsolutierung des Wahrheitsanspruchs eigener Glaubenssätze über richtiges und falsches Leben. Mehr zum Thema: Zahl rechter Straftaten steigt deutlich Wie ließen sich solchermaßen gefährdete Jugendliche wieder für Werte wie Toleranz und Empathie gewinnen? Über die Relativität aller Glaubenssätze und aller Richtig-Falsch-Urteile muss man reden. Psychologen und Psychologinnen reden beruflich mit allen Menschen – auch mit solchen, die gegen Gesetze verstoßen haben. Solche Gespräche müssen gerade deswegen in einer Atmosphäre des Vertrauens stattfinden. Wer bei seinem Gegenüber das Gefühl erzeugt, dass er jetzt nur einem ewigen Besserwisser folgen soll – ändert nichts in Richtung Toleranz und Empathie. Ich würde statuieren, Deutschlands Gesellschaft ist geteilter denn je. Sehen Sie das auch so? Nein – wir haben mehr Parteien und eine differenzierter gewordene Meinungslandschaft. Die Hilfsbereitschaft im Ernstfall des Alltags ist weder größer noch kleiner als früher. Wo liegt das Problem: Sind die Rechten – wie sie oft propagieren – zu lange zu wenig gehört worden oder ist das nur ein Mythos, den Gegner von Migration nutzen, um sich selbst als Opfer zu stilisieren? Die Rechten sind nur als Krakeeler gehört worden. Man ist nicht differenziert auf sie eingegangen, weil man mit Rücksicht auf den Mainstream &bdquo;vorbildliche“ Haltung zeigen wollte. Da galt dann ein holzschnittartiges Argumentationsmuster nach dem Schema &bdquo;AFD=Nazi=böse“. Das überzeugte von den Rechten niemanden, im Gegenteil: Gegenwärtig ist die AfD in Umfragen stärkste Partei. Es fehlte bislang oft (einige Journalisten haben das allerdings bravourös getan) der schlagkräftige und sachliche Beweis dafür, dass politische Wege, die die Rechten beschreiten wollen, unserem Land schaden. Niemand wird das wählen, was ihm und allen schadet – das hoffe ich. Haben wir tatsächlich größere Probleme mit Ausländern, Parallelgesellschaften, Kriminalität durch Ausländer – oder wird dieses Thema nur stärker propagiert? Ja, es wird stärker propagiert, und zwar aus einem ganz anderen Grund, als viele annehmen. Ich will das am Beispiel der Schulen erläutern. 16 Prozent der Schulen in NRW haben in sozialer Hinsicht optimale Bedingungen. Nur zwölf Prozent sind durch Integration und Inklusion besonders gefordert. Den schlechtesten Sozialindex haben nur 20 Schulen in NRW – das sind 0,4 Prozent. Blicke ich in manche Berichte, bekommt man den Eindruck, es sei überall angespannt und problematisch. Politisch wünschenswerte Folge: Ressourcen gehören in die sozialen Brennpunkte – nicht in die Villengegenden. Professor Dollase: &bdquo;Angst vor Staatsversagen“ eint die AfD-Wähler Sie sind Psychologe. Was glauben Sie: Warum wählen Menschen die AfD und andere rechte Parteien vor allem im Osten Deutschlands, aber auch in Steinhagen? Weil diese Menschen Furcht vor der weiteren Entwicklung haben. Sie eint, dass sie Zuwanderungsgegner (nicht notwendigerweise Rassisten) sind, weil sie glauben, dass der Staat die Integration der Zugewanderten in eine prosperierende Wirtschaft nicht schafft. Angst vor Staatsversagen also. Es ist ein Glaube, ohne Frage. Gerade im Osten ist der direkte Kontakt zu Zugewanderten nicht so intensiv wie in NRW. Aber das ist ja nicht die Frage: Solche Menschen machen sich schon Sorge um das Ganze – auch wenn sie nicht selbst davon betroffen sind. Es geht also um das, was man glaubt. Nicht um die Fakten ... Folgende Zahlen werden meines Erachtens zur Verminderung der Sorge viel zu selten ausführlich erklärt: 2024 sind 1,6 Millionen Menschen zugewandert, aber auch 1,2 Millionen aus Deutschland abgewandert – ein Plus im Wanderungssaldo von rund 400.000. Zugleich hatten wir deutlich mehr Todesfälle als Geburten, insgesamt ein Geburtendefizit von 300.000. Wir sind also 2024 gerade mal um 100.000 Menschen gewachsen. Das schaffen wir. Deutschland wird nicht voller, sondern nur gemischter? Wir müssen nicht davon ausgehen, dass alle, die zu uns kommen, auch ewig hierbleiben, weil es hier so schön und gut ist. Die Bindung der Zugewanderten an ihre verlassene Heimat, an ihre Herkunftskultur ist viel stärker, als wir annehmen. Wer in der Praxis mit Zugewanderten zu tun hat, weiß das. Prominentes Beispiel ist etwa der Fußballspieler Mesut Özil. In Gelsenkirchen geboren, ist er heute in der Türkei für Erdogan aktiv. Özil sagte mal: &bdquo;Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht. Bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutsch-Türke? Warum denken wir immer so in Grenzen?“ Der neue Weltbürger arbeitet mal hier, mal da. Bei manchen Geflüchteten aus kriegsgeschüttelten Ländern (Syrien, Ukraine) gibt es auch einen weiteren Sog in die Heimat – mithelfen beim Wiederaufbau. Lesen Sie auch: AfD legt im Kreis Gütersloh kräftig zu Glauben Sie, es würde helfen, die AfD in der Bundespolitik stärker einzubeziehen, zum Beispiel Ausschussvorsitze zu ermöglichen, um sie zu &bdquo;entradikalisieren“? Oder sollte man die &bdquo;Brandmauer“ ausbauen? Man sieht ja an den aktuellen Umfrage-Ergebnissen, wohin die Brandmauer geführt hat. Wer Zoff und Bürgerkrieg will, muss ausgrenzen. Wollen wir das? Ich finde, hier sollten die Vorschläge von Jens Spahn und vielen anderen noch mal gründlich diskutiert werden. Sie sind 1943 geboren, betreiben schon seit vielen Jahrzehnten Bildungs- und Konfliktforschung. Sind wir in Deutschland tatsächlich an einem gesellschaftlichen Wendepunkt, oder gab es dieses Erstarken von Fremdenfeindlichkeit schon lange? Nein. Meiner Meinung nach sind wir an keinem Wendepunkt, was die Zuwanderung anbelangt. Es gibt übrigens viele Zugewanderte, die von Deutschen sehr gemocht werden, andere weniger. Generell ist die Zuneigung zu den Menschen aus Mittelmeer-Ländern gewachsen, auch zu den Menschen mit dunkler Hautfarbe. Als Schülerzeitungsredakteur habe ich Anfang der 60er-Jahre einen Artikel unterstützt, in dem sich der Redakteur massiv über die damals herrschende Ablehnung von &bdquo;Itakern“ echauffierte. Italiener, Spanier, Griechen und natürlich das gesamte EU-Ausland werden von den Deutschen heute mehr gemocht, als sie ihre eigenen Landsleute mögen. &bdquo;Wendepunkte“ werden meines Erachtens von Technik-, Energie- und Rohstofffragen ausgelöst. &bdquo;Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen“, sagte Erich Kästner. 1928 war die NSDAP politisch noch deutlich schwächer als die AfD heute. Sehen Sie die Gefahr einer erneuten Machtübernahme durch Nazis – oder ist das Vergangenheit? Auch Opfer der NS-Ideologie warnen davor, die aktuelle Rechte mit der NSDAP gleichzusetzen. Geschichte wiederholt sich nicht. Was wir heute bekämpfen müssen, ist der Rigorismus, mit dem wir anderer Leute Ansichten verdammen. Die gesellschaftliche Erosion geht von Besserwissern und Missionaren des ewig Wahren aus. Wer meint, zu seinen Ansichten gäbe es keine Alternative, ist gefährlich und eigentlich nicht demokratisch gesonnen. Der Schritt von der Meinung des Wahrheitsbesitzes zur Ausgrenzung Andersdenkender ist ein kleiner Schritt. Das gilt leider auch für mich. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK

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