Armut und rechte Gewalt: Wie ein Steinhagener die Krise der Türkei erlebt

Steinhagen. Wer in den vergangenen Monaten die Berichte aus der Türkei verfolgte, las selten Ermutigendes. Mit immer neuen Maßnahmen bringt Recep Tayyip Erdogan sein Volk auf Linie - wenn nötig mit Gewalt. Die letzten unrühmlichen Höhepunkte: eine Prügelei im Parlament, bei der ein Ex-Fußballbundesliga-Profi von der AKP einen Oppositionspolitiker niederschlägt, die Instagram-Sperre, Rekordinflation und die Androhung, in Israel einzumarschieren. Entwicklungen, die Zweifeln lasse, ob für die gemäßigten Kräfte in der Türkei noch Hoffnung besteht. Einer, der die Lage täglich verfolgt, ist Atila Kirbas. Der 55-Jährige sitzt seit 2004 für die SPD im Steinhagener Stadtrat. Geboren ist er in der Türkei. Kirbas gehört der Glaubensrichtung der Aleviten an. Noch heute pflegt er gute Beziehungen zu Verwandten und alten Freunden dort, erst kürzlich war seine Familie in der alten Heimat zu Besuch. Türkische Zeitungen lese er kaum noch, sagt der Wahl-Steinhagener, fast alle berichteten mittlerweile gleichlautend. Wenn er Informationen direkt aus der alten Heimat wolle, wende er sich an Freunde oder nutze die Sozialen Medien. Zwangsläufig seien die aktuellen Entwicklungen immer wieder Thema. Vor Erdogans nachweislich kriminellen Machenschaften könne man im Alltag vielleicht die Augen verschließen, bei der Inflation von bis zu 75 Prozent sei das nicht möglich. &bdquo;Klar, das merken wir schon“, sagt Atila Kirbas. &bdquo;Das ist für jeden, der dort eine Existenz hat, ein echtes Problem.“ Deutsche ärgerten vor allem die Urlaubspreise, die sich vervielfachen. Für viele Türken sind die Probleme existenziell. Menschen vor Ort leiden unter hohen Preisen Monatlich steigen in der Türkei die Lebenserhaltungskosten. Die Preise für Nahrungsmittel, Benzin und anderes haben sich in eineinhalb Jahren verdoppelt. Eine Katastrophe, gerade für die vielen Sozialschwachen, sagt der Steinhagener Familienvater. Wenn ein älterer Mensch 12.000 Lira Rente beziehe, gingen oft schon 8.000 davon für die Miete drauf, weiß der 55-Jährige. Die verbliebenen 4.000 Lira - rund 100 Euro - reichten hinten und vorne nicht. &bdquo;Davon hört man sehr viel in den Sozialen Medien. Und auch die AKP-Wähler stöhnen“, erklärt der gelernte Schlosser, der heute als Logistiker arbeitet. &bdquo;Das ist ein Problem für Erdogan. Er verliert bei Umfragen Prozente.“ Nach Einschätzung des deutschen Kommunalpolitikers ist das der Grund, dass der türkische Präsident derzeit international viel von sich reden macht. &bdquo;Er fokussiert sich auf das Ausland, damit die Leute nicht merken, was im Land los ist“, erklärt Kirbas. Im Israel-Gaza-Konflikt bezieht die Türkei eine klare Anti-Israel und anti-westliche Position. Zuletzt hatte der Präsident unverhohlen mit einem Einmarsch in Israel gedroht, &bdquo;so wie man schon in Berg-Karabach und Libyen reingegangen“ wäre. Im Ukraine-Krieg hatte er sich erfolglos als Vermittler angeboten. &bdquo;Klar sind die Ukraine und Israel wichtig. Aber das ist Ablenkungspolitik“, sagt Atila Kirbas. &bdquo;Wenn sich Rentner schon kein Brot mehr leisten können, muss man sich um die Probleme vor Ort kümmern.“ Gleichzeitig nutze der Herrscher sein Medienimperium, um die unangenehmen Themen zu verschleiern. &bdquo;Er hat ja alle Zeitungen und das Fernsehen unter sich“, weiß Kirbas. Was bleibt, sind die Sozialen Medien. Da sei Erdogan die zeitweise staatliche Sperre von Instagram sicher zu Pass gekommen. &bdquo;Damit die Ablenkungsmanöver funktionieren“, spekuliert der Steinhagener. Mittlerweile ist der Dienst in der Türkei wieder nutzbar, nachdem sich der Mutterkonzern Meta bereit erklärt hatte, von der Türkei vorgegebene Inhalte zu löschen. Vergleich mit dem Dritten Reich Dass Erdogan nicht nur als Politiker fragwürdig, sondern tatsächlich in kriminelle Machenschaften verstrickt ist, davon zeigt sich Atila Kirbas überzeugt. So wie viele seiner früheren Landsleute hatte er mit Spannung die Videos von Mafiaboss und Ex-Erdogan-Vertrauten Sedat Peker verfolgt, der per Youtube über die üblen Verwicklungen der Elite berichtete - bis er plötzlich verstummte. Deutsche und türkische Journalisten gehen davon aus, dass viele Vorwürfe der Wahrheit entsprechen. &bdquo;Trotzdem hat Erdogan noch die Rückendeckung seiner Anhänger“, schätzt Atila Kirbas die Lage ein. &bdquo;Solange seine Partner von der MHP mitspielen, wird er wohl jede Wahl gewinnen.“ Seit 2018 regiert die AKP gemeinsam mit der offen rechtsextremen Gruppe. &bdquo;Aber die Regierung ist eine Luftnummer. Es geht nur um eine Person, ähnlich wie in Deutschland in den 1930er und ’40er Jahren“, sagt der Kommunalpolitiker mit Bezug auf Adolf Hitler das Dritte Reich. Die Türkei heute zeige deutlich Ähnlichkeit mit dem Faschismus von damals. Oppositionspolitiker seien in der Türkei schon lange nicht mehr sicher. Um das zu wissen, habe es nicht der halbstündigen Schlägerei im Parlament bedurft, sagt der erfahrene Ratsherr. Er selbst mache sich keine Sorgen, wenn er sich so deutlich gegen die AKP ausspreche. &bdquo;Wenn es kommt, dann kommt es. Die Gesellschaft hier spaltet sich ja auch. Man kennt manchmal seine eigenen Freunde nicht mehr.“ Würde er im Ruhrgebiet leben, hätte er vielleicht mehr Angst vor rechtsradikalen Türken, hier sei die Community aber noch deutlich entspannter unterwegs.

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