
Steinhagen. Die Geschichte beginnt am 30. November 1992: 14 Seiten umfasst der Text der anonymen Anzeige, die bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld auf den Tisch kommt. Polizeibeamte hatten die Unterlagen aus einem Schließfach entnommen. Beigefügt ist ein Ordner mit Belegen. In den einleitenden Worten heißt es: „Wie bei Terrorbanden von links und rechts bildet der Vorstand der Balsam AG meines Erachtens eine kriminelle Vereinigung. (...). Alleine die Betrugs-, Luft-, Doppel- und Dreifachgeschäfte mit den an die Procedo verkauften Aufträge erreichen (...) wahrscheinlich mehr als zwei Milliarden Mark. Auch die sonstigen Schäden durch Steuerhinterziehung und Kartellabsprachen gehen in die Millionen. Selbst vor körperlichen Angriffen ist man nicht mehr sicher (...)."

In dem Material finden sich Adressen von passenden Ansprechpartnern, detaillierte Beschreibungen, wo weiteres belastendes Material zu finden sei, sogar der Standort des wichtigsten Computers wird benannt. Oberstaatsanwalt Jost Schmiedeskamp bekommt die kriminellen Machenschaften des Steinhagener Sportbodenherstellers praktisch auf dem Silbertablett serviert – aber nach einer internen Besprechung von Staatsanwaltschaft und Finanzverwaltung im Dezember desselben Jahres stellt er fest: „Die Behauptungen sind unschlüssig und bieten keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer strafbaren Handlung." Stattdessen ermittelt Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Wallmeier etwa ein Jahr lang auf eigene Faust. Jost Schmiedeskamp nimmt seine Berichte zur Kenntnis – doch wieder geschieht nichts.
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Es dauert noch weitere sechs Monate, bis das ZDF-Magazin »Frontal« am Dienstag, 31. Mai 1994, von einem enormen Finanzskandal in der Sportbodenbranche berichtet, ohne den Namen Balsam zu nennen. Es ist das erste Mal, dass wir in der Redaktion auf die Spur der kriminellen Machenschaften der Steinhagener Balsam AG geführt werden. Und es ist der Moment, da für das Team vom „Haller Kreisblatt" und den Kollegen der „Neuen Westfälischen" eine außergewöhnliche Zeit beginnt. Es folgen schwierige Recherchen ohne Internet und ohne Smartphones. Und wir ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, was uns noch alles erwarten sollte.
Parallel zu Recherchen: Bombendrohungen, Autoaufbrüche und angezapfte Telefone

Rückblickend wissen wir: Es ging um Milliarden und Manipulationen. Um verschleppte Ermittlungen und einen zeitweise verschollenen Finanzchef. Und um persönliche Dramen, als sich ausgerechnet der ermittelnde Kriminalhauptkommissar Wallmeier auf eine Liaison mit der Ehefrau des Hauptbeschuldigten Klaus Schlienkamp einließ. Letztlich weitete sich Balsam eben auch zur politischen Affäre aus. Und ich war damals Mitte 20, arbeitete als junge Redakteurin in der HK-Lokalredaktion Steinhagen und hatte in dem Beruf noch nicht allzu viele Erfahrungen gesammelt. Aber es war ein Glücksfall, ausgerechnet so eine Geschichte gleich zu Beginn der beruflichen Laufbahn begleiten zu dürfen. Trotz der Einschüchterungsversuche, die in den Jahren der Recherchen hinzukamen.
Ich betone ausdrücklich, dass ein Zusammenhang zu den Balsam-Recherchen nie offiziell festgestellt wurde. Aber ich weiß von dem ermittelnden Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Wallmeier, dass er Bombendrohungen erhalten hat. Und anonyme Anrufe, man werde seinen Sohn entführen und ihn umbringen, wenn er die Ermittlungen nicht einstellt. Was mich betrifft, so wurde während der Zeit der Recherche mein Auto 18 mal aufgebrochen, einmal hatte man Reifen zerstochen und es war offensichtlich, dass sich jemand – außen am Haus sichtbar – an meinem privaten Festnetzanschluss zu schaffen gemacht hatte. Auffällig bei den Aufbrüchen: Es fehlten nie irgendwelche Klamotten, die bei mir meistens im Auto lagen, sondern es wurden Blöcke geklaut. Oder das abgeschlossene Handschuhfach war geknackt.

Wie es mit dem Fall weiterging? Am Montagmorgen, 6. Juni 1994, kündigt Rechtsanwalt Dr. Holger Rostek ein Geständnis seines Mandanten Klaus Schlienkamp für 17 Uhr an. Als es soweit ist, werden der Finanzchef sowie die übrigen drei Balsam-Vorstände Friedel Balsam, Dietmar Ortlieb und Horst Bert Schultes direkt festgenommen. Die Firmenzentrale wird versiegelt. Oberstaatsanwalt Heinrich Rempe übernimmt das Verfahren. Während des dreijährigen Prozesses dürfen die vier Angeklagten, die bald auf freien Fuß kommen, sogar neuen Tätigkeiten nachgehen. Nur dienstags und mittwochs müssen sie im Landgericht Bielefeld anwesend sein.
Schlienkamp ergreift die Flucht
Am 20. September 1999 werden Ortlieb und Schultes zu Geldstrafen verurteilt. Firmengründer Friedel Balsam erhält acht Jahre. Klaus Schlienkamp zehn – doch das Urteil wird in seiner Abwesenheit gefällt. Schlienkamp flieht nämlich zwischenzeitlich und will mit einer gefälschten Nachricht seinen Freitod erklären. Doch der dilettantische Plan geht schief. Wallmeier bleibt ihm so lange auf den Fersen, bis er ihn in der Nacht des 28. März 2000 auf den Philippinen schnappt. Die ganze Geschichte haben wir nun als Podcast aufgenommen. Er ist in diesem Artikel eingebettet.