Verkehrsexperte im Interview: Immer mehr Kinder können nicht Fahrrad fahren

Herr Stockhecke, hat die Corona-Pandemie ihre Arbeit noch einmal erschwert? Schließlich saßen die Kinder in dieser Zeit noch mehr zu Hause, anstatt sich an das Fahrrad zu gewöhnen.PETER STOCKHECKE: Leider beobachten wir diesen Trend nicht erst seit Ausbruch der Pandemie, sondern schon seit einigen Jahren. Es gibt immer mehr Viertklässler, die noch nicht Fahrrad fahren können. Die Ursachen dafür können verschiedene sein. Welche denn? Zum einen haben wir Kinder mit Migrationshintergrund, die aus kulturellen Gründen bislang noch keinen Kontakt zum Fahrrad hatten. Aber auch deutsche Mädchen und Jungen weisen beim Fahrradfahren immer häufiger motorische Defizite auf. Und das ist dann natürlich ein Problem. Wie begegnen Sie dem im Radfahrunterricht an der Grundschule? Aktuell üben wir noch mehr mit den Kindern, die Defizite haben. Das kann man sich wirklich so vorstellen, dass der Verkehrshelfer in einem geschützten Bereich mit ihnen übt, das Gleichgewicht zu halten und Fahrrad zu fahren. Manche Viertklässler schaffen es dann sogar zur Fahrradprüfung – aber wo jegliche Basis fehlt, können sie natürlich nicht teilnehmen. Und das Problem ist ein viel grundsätzlicheres. Wie meinen Sie das? Wir können natürlich nicht dauerhaft bei Dingen einspringen, die für die Kinder schon kein Thema mehr sein dürften. Die Radfahrausbildung an der Schule soll eine Ergänzung sein. Fahrradfahren müssen Kinder eigentlich von ihren Eltern lernen. Bei uns geht es um Regeln im Straßenverkehr, um das richtige Verhalten, um Sicherheit. Vor diesem Hintergrund machen Ihnen die genannten Defizite sicher noch mehr Sorgen, oder? Natürlich. Wir wollen durch unsere Arbeit doch Unfälle vermeiden helfen – jeder ist einer zu viel. Und es bleiben uns nur einige Unterrichtsstunden, um den Schülerinnen und Schülern das Wichtigste mit auf den Weg zu geben. Darum sollten die Eltern die ersten sein, die mit ihrem Nachwuchs üben: auf dem eigenen Grundstück, auf der angrenzenden Rasenfläche. Dort lernen sie, das Gleichgewicht zu halten. Lassen sich die zunehmend schlechteren Fähigkeiten der Kinder auch in den Ergebnissen der Radfahrprüfung ablesen? Es fallen jetzt nicht 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler durch. Aber wir sehen schon, dass die Fähigkeiten im Schnitt von Jahr zu Jahr schlechter werden. Müssen Sie gegenüber den Kindern eigentlich auch mal streng werden? Ich finde es wichtig, Regeln einzuhalten. Gerade, wenn man im Straßenverkehr unterwegs ist. Das setze ich bei den Kindern dann auch konsequent durch. Bei mir ist aber bislang noch kein Schüler und keine Schülerin trotz einer Ermahnung komplett neben der Spur gelaufen. Wenn der Polizist etwas sagt, hören Viertklässler da noch drauf. Wo liegen aus Ihrer Sicht denn die größten Gefahren für Kinder im Straßenverkehr? Straßenverkehr ist immer gefährlich, zumal er ständig zunimmt. Alle müssen aufeinander aufpassen und Rücksicht nehmen. Fußgänger und Radfahrer sind dabei nun mal die schwächsten Glieder in der Kette. Und mit der Rücksichtnahme funktioniert es auch in unseren stressigen Zeiten noch gut? Beim Radfahrunterricht an der Schule sogar zu gut. Das müssen Sie jetzt erklären. Sobald Kinder mit gelber Weste auf dem Fahrrad im Straßenverkehr unterwegs sind, setzen viele Autofahrer die Verkehrsregeln außer Kraft. Sie halten an, lassen die Schülerinnen und Schüler fahren – obwohl die gar keine Vorfahrt haben. Das kann gefährlich werden. Inwiefern? Die Kinder sollen zum Beispiel Linksabbiegen lernen. Wenn sie dann an eine vorfahrtsberechtigte Straße kommen – und ein Autofahrer von dort signalisiert ihnen, dass sie fahren sollen, schauen sie womöglich gar nicht mehr zur anderen Seite. Und übersehen dann unter Umständen ein anderes Auto, das weiterfährt. Dennoch haben wir in den vergangenen fünf Jahren bei der Radfahrausbildung keinen Unfall gehabt. Und dabei wollen wir es belassen. Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit denn nun besonders Spaß? Wenn ich mitbekomme, dass die Kinder angestrengt und konzentriert mitmachen, wenn ich sehe, wie sie sich über die bestandene Prüfung freuen – dann weiß ich: Ich habe den besten Beruf der Welt. Welcher Polizeibeamte kriegt denn schon Applaus bei der Arbeit? Geben Sie bei den Kindern gerne den Mahner? Gerade beim Thema Fahrradhelm kann man nicht genug mahnen. Weil er so viele schlimme Verletzungen verhindern kann. Und da werde ich so lange mahnen, bis wir alle Radfahrer unter den Helm kriegen. Also wohl immer. Wie könnte das Leben für die Radfahrer generell sicherer werden? Mal werden Radfahrer auf einen Geh-/Radweg geleitet und manchmal nicht, da gibt es Fahrradschutzstreifen, sogenannte &bdquo;andere Radwege", benutzungspflichtige Radwege und so weiter. Die Regeln sind für die Radfahrer leider häufig nicht oder zumindest nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Was wäre aus Ihrer persönlichen Sicht besser? Wenn Fahrradfahrer auf der Fahrbahn fahren würden – abgesehen von großen Bundesstraßen. Dann wüssten die Autofahrer Bescheid, dass sie Rücksicht zu nehmen haben. Gerade Kreuzungen und Grundstücksausfahrten sind doch für Fahrradfahrer gefährlich. Als Mentor der Kinder auf dem Fahrrad – gibt es etwas, dass Sie sich für die Zukunft wünschen? Eltern sollte es wichtig sein, dass ihre Kinder Fahrradfahren lernen. Sie sollten sie rausschicken zum Spielen, ihre Motorik fördern. Dann fällt ihnen später auch der Start auf dem Fahrrad leicht. Das Interview führte Marc Uthmann

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