Von der Ingenieurin zur Spezialistin in Orthopädie-Technik

Von Tradition eingerahmt: Mitarbeiterin Anja Drabinski (links) und Inhaberin Larissa Graf-Fehrenkötter. | © Heiko Kaiser, HK

24.02.2018 | 24.02.2018, 19:00

Halle. Gelernt hat Larissa Graf-Fehrenkötter einen ganz anderen Beruf. „Ich bin Ingenieurin für Baustatik", sagt die Inhaberin des Sanitätshauses Graf. Heute aber berechnet sie nicht mehr die Tragkraft von Balkenkonstruktionen. Und doch sind Statik und Stabilität noch immer ein Thema für sie – auf völlig anderem Gebiet. Larissa Graf-Fehrenkötter berät Menschen, die Unterstützung brauchen. Wenn Verletzungen, Krankheiten oder Fehlstellungen das Leben erschweren. Wenn der Körper nicht mehr die Stabilität hat, die er braucht. Wenn Hilfsmittel notwendig sind, um den Alltag meistern zu können.

Handwerk: Der Orthopädietechniker Fabian Förster bearbeitet an der Trichterfräse eine Schuheinlage. - © Heiko Kaiser, HK
Handwerk: Der Orthopädietechniker Fabian Förster bearbeitet an der Trichterfräse eine Schuheinlage. (© Heiko Kaiser, HK)

Die Geschichte des Sanitätshauses Graf begann 1951, als Alexander Graf hinter dem damaligen Hotel Schmedtmann seine Meisterwerkstatt für Orthopädietechnik eröffnete. Seine Frau Herta führte den Laden an Bahnhofstraße 20. 1957 kamen Verkauf und Werkstatt im Geschäft an der Langen Straße zusammen. Im August 2015 erfolgte der Umzug in die modernen Räumlichkeiten am Wischkamp.

Am Grab des Großvaters fiel die Entscheidung

Larissa Graf-Fehrenkötter hat 1997 die Geschäftsleitung übernommen. In dritter Generation also? „Nein, eigentlich erst in zweiter. Denn mein Vater ist Ingenieur für Baustatik. Ich habe den Betrieb praktisch von meinen Großeltern übernommen", sagt die heutige Inhaberin und erzählt, wie es dazu kam. „Wie soll es weitergehen?", fragte sie sich damals, als sie am Grab ihres Großvaters stand. Spontan traf sie dort die Entscheidung. Für das Sanitätshaus. Für die Fortsetzung der Tradition. Und gegen die Karriere als Baustatik-Ingenieurin. Damit begann eine intensive Lehrzeit. „Ich wurde praktisch ins kalte Wasser geworfen", erinnert sie sich. Die langjährigen Mitarbeiter Wilfried Kölkebeck und Ingo Rolle führten sie in die Feinheiten der Orthopädietechnik ein.

1951: Herta Graf im Laden an der Bahnhofstraße. Die Puppen im Hintergrund sind auch heute im Geschäft zu finden. - © Heiko Kaiser, HK
1951: Herta Graf im Laden an der Bahnhofstraße. Die Puppen im Hintergrund sind auch heute im Geschäft zu finden. (© Heiko Kaiser, HK)

Denn die ist ebenso vielfältig wie individuell. Wer etwa glaubt, ein Sanitätshaus sei nur etwas für ältere Menschen, der liegt völlig falsch. „Es fängt im Babyalter an, wenn beispielsweise eine Hüftbeugeschiene bei Fehlstellungen verordnet wird. Kinder bekommen Einlagen verschrieben, die individuell angepasst werden. Sportler kaufen hier Stützbandagen, aber auch Dessous und Sport-BH haben wir im Sortiment", erklärt die Inhaberin.

Ihre wichtigste Aufgabe aber sieht sie darin, Menschen zu beraten, herauszufinden, welches für sie die optimale Versorgung ist. Das Graf-Team bewegt sich dabei an der Schnittstelle zwischen Arzt, Krankenhaus und Krankenkasse. Rezepte und Verordnungen stecken nur den Rahmen ab. Im Sanitätshaus jedoch müssen individuelle Lösungen gefunden werden. „Oft verhandeln wir dabei mit Krankenkassen", sagt die 46-Jährige. Ein permanentes Ringen um die beste Versorgung der Kunden. Denn eines hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Während die Krankenkassen früher die meisten Verordnungen problemlos bezahlt haben, gebe es heute Festbeträge, verrät die Inhaberin. „Und die, so Larissa Graf-Fehrenkötter, gewährleisten nicht immer eine optimale Lösung.

Eines wird beim Besuch des Sanitätshauses am Wischkamp indes klar: Orthopädietechnik ist hohe Handwerkskunst. Wenn es gilt, Stützkorsetts anzufertigen, mit Schuheinlagen die Statik zu regulieren oder zu entlasten, machen oft Millimeter den entscheidenden Unterschied. An diesen Winzigkeiten arbeiten in der Werkstatt hinter dem Verkaufsraum Ingo Rolle und Fabian Förster. Rolle ist seit mehr als 45 Jahren im Betrieb. Großen Respekt zollt Larissa Graf-Fehrenkötter den handwerklichen Fähigkeiten des Orthopädiemechaniker-Meisters, der damit schon vielen Menschen helfen konnte.

Am großen Werktisch sind zwei Schraubstöcke befestigt. Eine Adler-Nähmaschine steht daneben. Auch wenn Leder heute nicht mehr ganz so häufig zum Einsatz kommt, wartet auch noch eine alte Sattlernähmaschine auf Aufträge. Im angrenzenden Raum wird es noch robuster. Trichterfräse und Bandschleifmaschine verrichten hier ihre Arbeit, bringen beispielsweise Einlagen in die richtige Form.

Unternehmensgründer: Alexander Graf (Dritter von links) im Kreis seiner Orthopädietechnik-Schüler. - © Heiko Kaiser, HK
Unternehmensgründer: Alexander Graf (Dritter von links) im Kreis seiner Orthopädietechnik-Schüler. (© Heiko Kaiser, HK)

„Während früher, kriegsbedingt, die Prothesenherstellung noch einen großen Raum einnahm, ist heute die Herstellung von Einlagen das Hauptgeschäft", sagt Larissa Graf-Fehrenkötter. Auch die Materialien haben sich verändert. Holz und Leder sind Kunststoffen und Carbon gewichen. Handgenähte Stützkorsetts werden vielfach durch elastische Bandagen ersetzt. Und dennoch bleibt die Orthopädietechnik eine höchst individuelle Angelegenheit. Modelle und Vorlagen können eben nicht immer alle anatomischen Eigenarten der Menschen berücksichtigen.

Entlastungsschiene für das Fohlen der Wunderstute Halla

Dann sind Larissa Graf-Fehrenkötter und ihr Team gefragt. So wie einst der Großvater, als es darum ging, ein Fohlen der Wunderstute Halla des Olympiasiegers Hans-Günter Winkler zu versorgen. „Das Fohlen hatte sich das Sprunggelenk gebrochen", erzählt Larissa Graf-Fehrenkötter. Normalerweise ein Todesurteil. Alexander Graf aber nahm Maß, fertigte eine das Gelenk entlastende Apparatur an, und das Fohlen wurde gesund.

Der Alltag im Sanitätshaus beschert selten derart spektakuläre Fälle.

Am Tresen berät Larissa Graf-Fehrenkötter an diesem Morgen eine Frau, deren Kompressionsstrümpfe angepasst werden müssen. Nicht spektakulär. Dennoch bedeutsam für die Betroffene. Das weiß die Geschäftsinhaberin ganz genau. „Ich werde noch einmal mit dem Arzt sprechen", sagt sie. Die Frau lächelt dankbar. Es sind genau diese Momente, für die Larissa Graf-Fehrenkötter ihren Beruf gewechselt hat.