Neue Wege, für die es keine Beine braucht

Das zweite Leben

Ungebrochener Lebensmut: Iris Schwitalski (62) machte schon mit 22 Jahren ihren Meister als Friseurin. Sie war Geschäftsführerin bei Rosinsky, beriet Unternehmer in Stilfragen – die Zeiten sind vorbei. Aber auch für ihr zweites Leben ist sie dankbar. | © Foto: Nicole Donath

Nicole Donath
30.12.2017 | 30.12.2017, 05:05

Halle. „Ich mach uns mal einen Kaffee, ja?" Iris Schwitals-ki fährt mit ihrem Rollstuhl in die Küche, holt einen Becher aus dem Schrank und bedient die Maschine. Krachend zermahlt diese erst die Bohnen, dann speit sie auch das heiße Wasser. Die 62-Jährige nimmt den Becher mit dem heißen Getränk, dreht auf der Stelle und kehrt zurück ans Kopfende des Tisches.

Selbstständig: Iris Schwitalski schafft es alleine, sich von einem Rollstuhl in den anderen zu setzen. Ein Holzbrett hilft ihr dabei. - © Foto: Nicole Donath
Selbstständig: Iris Schwitalski schafft es alleine, sich von einem Rollstuhl in den anderen zu setzen. Ein Holzbrett hilft ihr dabei. (© Foto: Nicole Donath)

„Das sind alles meine", sagt Iris Schwitalski. Sie setzt ihre Brille ab und deutet lächelnd auf ein Bild mit vier Kindern. Ihre Enkel. „Nee, also mir wäre das damals zu viel gewesen – vier Kinder! Aber jetzt ist das so toll zu sehen, wie die miteinander umgehen, wie unterschiedlich alle sind?..." Sie erzählt noch ein wenig von Weihnachten. Wie schön sie es hatten und auch gemütlich, sie und ihre Tochter, der Schwiegersohn und die vier Kleinen. Dann folgt der Zeitsprung zurück ins Jahr 2010.

Die Sepsis hatte begonnen, den Körper Stück für Stück zu vernichten

Iris Schwitalski kann sich noch genau an jenen Abend erinnern, als sie gemeinsam mit ihrem Mann über den Haller Nikolausmarkt ging und plötzlich diese wahnsinnigen Schmerzen verspürte. Überall, im ganzen Körper. „Wir sind dann erst nach Hause, später ins Haller Krankenhaus. Kennen Sie das, wie sich die Haut von Menschen verändert, die langsam sterben? Es sieht aus, als ob sie marmoriert", fährt die gelernte Friseurin fort, die schon mit 22 ihren Meister machte. „Genau das war bei mir der Fall. Ich wurde sofort nach Bielefeld verlegt."

Alles im Griff: Iris Schwitalski fährt mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, von dort aus geht’s weiter in die Stadt. - © Foto: Nicole Donath
Alles im Griff: Iris Schwitalski fährt mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, von dort aus geht’s weiter in die Stadt. (© Foto: Nicole Donath)

Dort angekommen, kochte ihr Körper schon regelrecht, und noch heute zeugen große Narben an ihren Armen davon, wie die Ärzte ihr die Haut aufgeschnitten haben, damit das Blut austreten konnte – die einzig lebensrettende Maßnahme in dieser Situation. Den Rest kennt Iris Schwitalski nur aus Erzählungen. Sie war längst ins Koma gefallen und wurde in eine Spezialklinik nach Dortmund geflogen. Der Wettlauf gegen die Zeit, der Wettlauf gegen die fortschreitende Sepsis, die ihren Körper Stück für Stück vernichten wollte, hatte begonnen. Von den Beinen waren zu diesem Zeitpunkt schon nur noch die Knochen übrig.

„Erst wollten sie mir Beine und Arme amputieren", berichtet Iris Schwitalski weiter von den dramatischen Tagen. „Doch das hätte ich ja nicht überlebt." Es blieb bei den Beinen, und das „nur" mag man gar nicht hinzufügen. Beide Beine weg. Ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen. Wie verkraftet man das? Wie schafft man es, sich wieder aufzuraffen und dieses neue Leben anzunehmen, das so anders ist als das, was gerade noch selbstverständlich war?

Iris Schwitalski hält den Blick ihres Gegenübers, dann sagt sie mit fester Stimme: „Es geht immer alles noch schlimmer. Krebs wäre viel schlimmer. Keine Arme zu haben, kein Augenlicht. Oder womöglich ein Kind zu verlieren. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren! Aber stattdessen wache ich auf und weiß, ich bin gesund. Da bin ich doch glorreich dran."

Pause. Iris Schwitalski zwinkert und holt sich aus der Küche eine Schachtel Zigaretten. „Das ist das einzige Laster, das einzige Vergnügen, das ich noch habe. Und das ist soo schön?..." Lächelnd zündet sie sich eine an, zieht den Rauch tief ein und pustet ihn zur Seite weg. Dann erzählt sie weiter.

„Irgendwann flog man mich von Dortmund zurück nach Halle, damit ich hier auf der Intensivstation aufwachen sollte. Ganz langsam. Da lief dann mal der Fernseher, die Schwestern kamen herein und nannten jedes Mal die Tageszeit. Irgendwann standen dann ganz viele Ärzte um mich herum und wollten, dass ich etwas sage!" Wie in einem dicken Wattebausch habe sie die Welt bis dahin um sich herum wahrgenommen. Von manchen Sachen wisse sie bis heute nicht, ob sie nun real waren oder nur Fantasie. Jedenfalls fragte sie ihren Mann daraufhin leise, was mit dem Adventskranz sei. Doch der antwortete nur: „Iris, wir haben jetzt Ostern?..."

In diesem Augenblick wusste Iris Schwitalski noch nichts davon, dass man ihr beide Beine abgenommen hatte. Ihre Tochter sprach zunächst nur von einem, weil sie ihre Mutter schonen wollte. Dann aber bekam sie durch Zufall ein Gespräch mit und kannte fortan die ganze Wahrheit. Was sie in dem Moment gefühlt hat? Die Frau, die in ihrem ersten Leben unter anderem als Geschäftsführerin bei Star-Coiffeur Michael Rosinsky war, die als Visagistin gearbeitet hatte und für ihre Stil- und Farbberatungen von bekannten Unternehmerpersönlichkeiten gebucht wurde oder einen eigenen Salon führte, winkt ab. „Was sollte ich schon machen? Ich hab mir gedacht: Na, dann mal auffi?...!"

Iris Schwitalski kam zur Reha nach Wünnenberg. Zum Erstaunen des Pflegepersonals ließ sie sich ihre Sachen geben, setzte sich in einen Rollstuhl und trollerte los. In ihr neues Leben, ihr zweites. Das sieht sie nämlich durchaus so. Und glaubt dabei fest daran, dass diese Wendung eine gute war. „Mir wurde etwas Neues geschenkt: Freude, Ehrlichkeit, Offenheit. Und das ging nur so. Mein Leben ist jetzt wertvoll."

Ich möchte einmal die Mandelblüte auf Mallorca erleben, das ist mein Traum

Natürlich gibt es Dinge, die nicht so leicht sind wie früher. „Bei vielen Sachen brauche ich Hilfe", räumt Iris Schwitalski ein, die mittlerweile ihren Mann verloren hat und alleine in einer Wohnung lebt. „Fenster putzen kann ich nicht mehr. Fürs Duschen brauche ich ’ne Stunde und anschließend steht hier erst mal alles unter Wasser!" Lachend schlägt sie die Hände über’m Kopf zusammen. „Manchmal tut auch der Rücken vom Sitzen weh, dann lege ich mich etwas aufs Bett. Ja, ein paar Sachen sind dann einfach sch?... Aber das ist so."

Die vierfache Oma zieht sich ihre Jacke an und mit Hilfe eines Holzbretts rutscht sie vom Wohnungsrollstuhl auf das Outdoor-Modell, dann geht es mit Hilfe des Fahrstuhls ins Erdgeschoss nach draußen. Dort trifft sie ihren Nachbarn. „Bist du Silvester unten und zündest meine Raketen an?" Beide lachen. Über Jahre hat sie das nicht gemacht, doch jetzt, da auch ihr Hund gestorben ist, will sie diesen Spaß haben. Und noch einen Traum hat sie: „Oh, ich möchte einmal die Mandelblüte auf Mallorca erleben, das ist mein Traum! Am liebsten für ein Vierteljahr. Und das mache ich auch noch, darauf können Sie sich verlassen. Irgendwann bin ich weg – aber ich komme wieder. Denn ich liebe Halle. Und mein Leben hier."