Die EU ist mit den Plänen für die Nutzung von eingefrorenem russischen Staatsvermögen für die Ukraine einen Schritt vorangekommen. Angesichts erheblicher Bedenken des zentralen Akteurs Belgien bleibt allerdings vorerst unklar, ob sie am Ende wirklich umgesetzt werden können. Eine Entscheidung soll kurz vor Weihnachten fallen, wie EU-Ratspräsident António Costa nach einem EU-Gipfel in Brüssel mitteilte, bei dem auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dabei war. Heute Nachmittag will sich zudem die sogenannte Koalition der Willigen in London treffen, um über die weitere Unterstützung für Kiew vor dem Winter zu beraten.
Bei dem Treffen in Brüssel beauftragten die Staats- und Regierungschefs die EU-Kommission damit, so bald wie möglich einen Vorschlag zur Verwendung russischer Vermögenswerte vorzulegen. Auf Drängen Belgiens hin soll die Kommission allerdings auch andere Optionen zur Deckung des Finanzbedarfs der Ukraine für die Jahre 2026 bis 2027 erarbeiten, wie aus einer am Abend veröffentlichten Erklärung hervorgeht.
Von einer Einigung auf eine Nutzung des eingefrorenen Vermögens bleibt die EU damit ein ganzes Stück entfernt. Bundeskanzler Merz (CDU) äußerte vor drei Wochen noch die Erwartung, es werde beim Gipfel «aller Voraussicht nach dazu eine konkrete Entscheidung geben». Die jetzige Erklärung ist aber nur ein erster Schritt in diese Richtung und nicht das erwartete starke Signal an Russland. Dazu trug auch bei, dass Ungarns Regierung - die einen vergleichsweise guten Draht nach Moskau hat - sich weigerte, den Text mitzutragen.
Merz sagte mit Blick auf Haftungsfragen und andere Bedenken von belgischer Seite, es gebe wirklich ernsthafte Themen, die man lösen müsse. Man habe aber verabredet, gemeinsam vorzugehen und einen Weg zu suchen, das russische Geld zu nutzen.
Showdown beim Dezember-Gipfel?
EU-Ratspräsident António Costa zeigte sich nach dem Gipfel dennoch optimistisch. Niemand habe ein Veto eingelegt, sagte er. Man habe die EU-Kommission gebeten, die Arbeit fortzusetzen und technische Fragen zu klären. Beim EU-Gipfel am 18. Dezember solle dann eine finale Entscheidung getroffen werden. Ähnlich äußerte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, nach dessen Empfinden der Wille zu dem Projekt «sehr deutlich» bekräftigt wurde.
Beim Thema Entscheidungsdruck widersprach auch der belgische Premierminister Bart De Wever nicht. Er sagte: «Ich denke, wir brauchen vor Ende des Jahres eine Lösung, um die Ukraine im Krieg zu halten und ihre finanziellen Probleme zu lösen.» Als mögliche Alternative zur Nutzung des russischen Staatsvermögens nannte er neue EU-Schulden.
Belgien steht den Plänen bislang sehr kritisch gegenüber, weil es erhebliche Rechtsrisiken sieht und negative Konsequenzen für noch in Russland tätige europäische Unternehmen befürchtet. Das Land ist ein zentraler Akteur, da das russische Geld dort derzeit vom Finanzinstitut Euroclear verwaltet wird. Und mit seinen Bedenken steht Belgien nicht allein.
Merz und von der Leyen treiben Pläne voran
Die vor allem von Merz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorangetriebenen Pläne sehen vor, in der EU festgesetztes Geld der russischen Zentralbank zu verwenden, um der Ukraine Darlehen in Höhe von bis zu 140 Milliarden Euro zu geben. Russland soll das Geld nur dann zurückbekommen, wenn es nach einem Ende des Angriffskriegs gegen die Ukraine Reparationszahlungen leistet. Für den Fall, dass das eingefrorene russische Geld unerwartet wieder freigegeben werden müsste, sollen die EU-Staaten Garantien leisten.
Deutsche Unternehmen befürchten Milliardenverluste
Der belgische Premierminister De Wever will nur dann eine Umsetzung der Pläne ermöglichen, wenn es eine vollständige Vergemeinschaftung des Risikos gibt. Ferner verlange sein Land Garantien, dass «alle Mitgliedstaaten sich beteiligen», falls das Geld zurückgezahlt werden muss, sagte der Belgier. Außerdem fordert er Transparenz und gemeinsames Handeln von allen anderen Ländern, die Vermögenswerte blockieren. Er warnte zudem, dass Vermögenswerte europäischer Unternehmen in Russland beschlagnahmt werden könnten.
Auch in deutschen Unternehmerkreisen gibt es deswegen starke Vorbehalte gegen das Projekt. «Deutschland hat wie kein anderes Land in Russland investiert. Es hat deshalb bei der geplanten Nutzbarmachung russischer Zentralbankgelder für Waffenkäufe zugunsten der Ukraine am meisten zu verlieren», sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, Matthias Schepp, der Deutschen Presse-Agentur. Zusammengerechnet sei Vermögen von über 100 Milliarden Euro in Gefahr.
Ukraine braucht viel Geld
Hintergrund der Pläne zur Nutzung des russischen Vermögens ist vor allem der riesige Finanzbedarf der Ukraine. Für die militärische und finanzielle Unterstützung Kiews wird in den kommenden zwei Jahren voraussichtlich ein dreistelliger Milliardenbetrag benötigt.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt den Bedarf an Haushaltshilfen für das Funktionieren des Staates 2026 und 2027 auf 60 Milliarden US-Dollar (52 Mrd. Euro). Hinzu kämen vermutlich mindestens 80 Milliarden Euro für Waffen und Munition für den Abwehrkampf gegen Russland - und dabei ist schon einkalkuliert, dass der Krieg möglicherweise nicht mehr volle zwei Jahre in der derzeitigen Form weitergeht.
Wenn nicht das russische Vermögen genutzt werden kann, müssten die EU-Staaten das Geld für die Unterstützung der Ukraine anderweitig aufbringen - was angesichts der hohen Verschuldung von Ländern wie Frankreich und Italien als schwierig gilt.
Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte beim Gipfel in Brüssel, sein Land benötige das Geld bereits im kommenden Jahr. «Wir brauchen es im Jahr 2026 und es wäre besser, es gleich zu Beginn des Jahres zu haben», sagte er. Er wisse jedoch nicht, ob dies möglich sei, fügte er hinzu. «Nicht alles hängt von uns ab.»
Treffen der Ukraine-Unterstützer in London
Der britische Premierminister Keir Starmer will die Verbündeten der Ukraine heute aufrufen, ihre militärische Unterstützung für Kiew auszubauen. Das Land müsse vor dem Winter in eine möglichst starke Position gebracht werden, hieß es in einer Mitteilung der britischen Regierung vor dem Treffen der «Koalition der Willigen» in London. Dazu gehöre neben der Nutzung russischer Vermögenswerte auch, russisches Öl und Gas von den globalen Märkten zu verbannen und mehr Waffen mit großer Reichweite bereitzustellen.
Zu dem Treffen am Nachmittag im britischen Außenministerium werden neben Starmer auch Selenskyj, Nato-Generalsekretär Mark Rutte sowie die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und der niederländische Regierungschef Dick Schoof erwartet. Etwa 20 weitere Staats- und Regierungschefs wollen sich aus der Ferne zuschalten lassen. Bundeskanzler Merz lässt sich von Außenminister Johann Wadephul vertreten.

