Rolf Mützenich ist erschüttert. Britta Haßelmann bebt. Heidi Reichinek ruft zu den Barrikaden. Aus den Reihen ihrer Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken wird in Richtung von Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz „Pfui“ gerufen. Ein Antrag von CDU und CSU zu einem faktischen Einreiseverbot und sofortiger Zurückweisung von Schutzsuchenden ohne gültige Papiere ist gerade angenommen worden, weil die AfD für diese Mehrheit gesorgt hat.
Es ist nur ein Antrag – kein Gesetz, das umgesetzt wird. Aber es ist eine Zäsur. Ein historischer Moment. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik sind im Parlament Pläne angenommen worden, weil rechtsextreme Stimmen es ermöglicht haben. Die AfD jubelt.
Es wird die Republik verändern. Und es wird die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl massiv erschweren. Manchen befürchten schon österreichische Verhältnisse. Dort zieht ein Rechtsextremer ins Kanzleramt ein.
AfD triumphiert – Spott für Merz
Es geht noch jemand anderes ans Rednerpult. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann. Er triumphiert und hat Spott für Merz übrig: „Das ist wahrlich ein historischer Moment. Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen, und jetzt gehen Sie ans Mikrofon und stehen hier mit schlotternden Knien und entschuldigen sich. Kanzlerformat war das nicht.“
Merz hatte kurz zuvor die SPD aufgefordert, bei der für Freitag geplanten Abstimmung über ein von der Union eingebrachtes „Zustrombegrenzungsgesetz“ nun CDU und CSU zu unterstützen. Baumann frohlockt, in allen westlichen Ländern breite sich die Bewegung gegen den „linksgrünen Kurs“ aus. Außer sich ist er vor Freude und ruft: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche und das führen wir an!“
Begonnen hatte die Sitzung so wie es Bundestagspräsidentin Bärbel Bas erbeten hatte: Schonungslos, aber respektvoll.
Scholz’ wichtigste Rede im Bundestag
Ein monströses Verbrechen nennt Olaf Scholz den Mord an dem kleinen Jungen und dem Familienvater in Aschaffenburg. „Das sprengt die eigene Vorstellungskraft“, sagt der Bundeskanzler spürbar betroffen. Er ist wie viele Abgeordnete an diesem Mittwoch wegen der Gedenkstunde zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Schwarz gekommen. Das Parlament trägt Trauer. Wegen der Ermordung der Juden während der Hitler-Diktatur.
Es trauert aber auch um die Opfer in Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg - abgestochen oder totgefahren von Männern aus Syrien, Afghanistan und Saudi-Arabien.
Seine Regierungserklärung zwischen dem Messerattentat eines ausreisepflichtigen Afghanen in der vorigen Woche und vor der Neuwahl des Bundestags in gut drei Wochen wird Scholz´ wichtigste Rede im Parlament sein. Er will die zunehmende Verunsicherung und Wut in der Bevölkerung über ungelöste Probleme der Migrationspolitik aufnehmen und zugleich den Rechtsstaat mit dem im Grundgesetz verankerten Asylrecht verteidigen. Merz will die Gesetzeslage verschärfen und nimmt dafür die Unterstützung der in Teilen rechtsextremen AfD in Kauf. „Ein unverzeihlicher Fehler“, beklagt Scholz. Da weiß er noch nicht, was am Abend mit dem Unionsantrag passiert.
Scholz warnt vor Koalition von Union und AfD
Und an diesem Freitag wird womöglich im Bundestag erstmals in seiner Geschichte auch ein Gesetz verabschiedet, dem eine rechte Partei die Mehrheit verschafft – das von der Union eingebrachte Zustrombegrenzungsgesetz. Damit soll etwa der Familiennachzug zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus in Deutschland beendet werden. FDP und BSW haben wie die AfD Zustimmung signalisiert. SPD, Grüne und Linke sprechen von Einsturz der Brandmauer, Tabubruch und einem historischen Fehler.
Die Union will auch die Bundespolizei dazu berechtigen, selbst Haftbefehle für ausreisepflichtige Menschen beantragen zu können. Das ist bisher Gerichten vorbehalten. Allerdings: Das Gesetz dürfte im Bundesrat scheitern, weil CDU-geführte schwarz-grüne Landesregierungen wahrscheinlich nicht zustimmen werden.
Der Kanzler versucht, dem CDU-Chef die Eignung als Kanzler abzusprechen. Die Gerichte würden seine Pläne sofort kassieren. „Das größte Land der EU würde offen EU-Recht brechen, so wie das bislang nur Viktor Orbán in Ungarn wagt – mit fataler Signalwirkung für andere Staaten. So etwas hätte kein deutscher Bundeskanzler je getan.“ Scholz warnt noch vor einer Koalition von Union und AfD nach der Wahl.
Merz: Scholz ist „niederträchtig und infam“

Diese Äußerung sei „niederträchtig und infam“, schimpft Merz. Er könne es mit seinem Gewissen einfach nicht vereinbaren, „ohnmächtig zuzusehen, wie Menschen in unserem Land bedroht, verletzt und ermordet werden.“ Ein Kanzler sei doch nicht der Notar der Bundesrepublik. Ein Kanzler müsse für Gesetzesänderungen sorgen, wenn etwas schief laufe.
Dann bringt die Union einen Fünf-Punkte-Plan ein, indem sie unter anderem fordert, ausnahmslos alle Versuche illegaler Einreise an der Grenze durch Zurückweisung zu stoppen - auch wenn ein Schutzgesuch geäußert wird. Scholz hatte gemahnt, das Recht auf Asyl sei die unmittelbare Antwort auch auf das Grauen der NS-Herrschaft.
Der Merz-Plan wird mit AfD-Hilfe angenommen. Mützenich geht ans Mikrofon. Man könne nicht zur Tagesordnung übergehen, sagt er. Merz habe sich aus der politischen Mitte verabschiedet.