Auf dem Couchtisch in ihrem Büro hat sie eine Indianer- und eine Cowboy-Spielfigur platziert. Und sofort beginnt man zu interpretieren: Ein Kommentar zur Debatte über kulturelle Aneignung? Und dann ist da diese Darstellung von einem Hakenkreuz auf einem kleinen Bild an der Wand. Es setzt sich aus zwei Ikea-Inbusschlüsseln zusammen, darüber der Spruch „One world, one Möbel“. Das sei kapitalismuskritisch gemeint, erläutert Sabine Mertens.
Mertens nennt sich selbst „Kunsttherapeut“ und „Autor“. In Hamburg ist sie außerdem „Sprecher“ der Volksinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“. Ihre Abneigung gegen geschlechtergerechte Sprache ist so groß, dass sie etwas verbieten will, wofür es bisher gar keine Vorschrift gibt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Verwaltung der Stadt Hamburg steht es frei, ob sie gendern oder nicht.
Doch gelingt es Mertens, bis Anfang August 10.?000 Unterschriften zu sammeln, muss sich die Hamburgische Bürgerschaft mit ihren Forderungen befassen. Lehnt die rot-grüne Mehrheit diese ab, könnte es ein Volksbegehren geben: 66?.000 Stimmen innerhalb von drei Wochen gilt es dafür einzureichen. Danach käme es zum letzten großen Schritt, dem Volksentscheid.
6.000 Unterschriften seit Februar
Dann könnten Bürgerinnen und Bürger erstmals in Deutschland über eines der derzeit meistdiskutierten Themen direktdemokratisch abstimmen. Sinngemäß würde die Frage wohl lauten: Soll Behörden, Universitäten und Schulen das Gendern verboten werden? Seit Anfang Februar hat Mertens Initiative rund 6.000 Unterschriften gesammelt.
Wer ist diese Frau, der die Hamburger und Hamburgerinnen so bereitwillig ihre Stimme geben? Die davon träumt, dass im ganzen Land Initiativen nach ihrem Vorbild aus dem Boden sprießen? Und die so umstritten ist, dass man die Einrichtung ihres Büros automatisch auf politische Aussagen abklopft?
Ein paar Tage zuvor macht ein Stand mit blauer Plane viele Menschen in der Hamburger Innenstadt glücklich. Wenn sie lesen, was auf der Plane steht, rufen sie: „Da mach ich mit, das ist gut!“, „Toi, toi, toi!“, oder „Sofooort, sofooort!“ Auf die Plane ist ein Sackgassen-T und die Forderung „gENDEr“ gedruckt. Neben ihrer Unterschrift für Mertens Volksinitiative lassen die meisten auch wohlwollende Worte da.
Mehrheit in Umfragen oft gegen das Gendern
Für Mertens ist der Zuspruch eine Genugtuung. Gendersprache, erzählt die 65-Jährige gleich zur Einleitung im scharfen Hamburger Wind, sei für sie „kontraintuitiv“, „integrationsfeindlich“, „diktatorisch“ und werde mit „totalitärem Anspruch“ verfolgt. Sie trifft offenbar einen Nerv: Einige Passantinnen und Passanten scheinen von ihrem Stand beinahe magisch angezogen zu werden. Die Szene spielt sich direkt am feinen Jungfernstieg ab, zwischen Nobelkaufhaus und Bankfiliale, mit Blick auf die graue Alster.
In Umfragen spricht sich regelmäßig eine Mehrheit gegen Formen wie das Gendersternchen, das Binnen-I oder den Doppelpunkt aus. Zuletzt fragte Infratest dimap im September 1.183 Menschen, wie wichtig ihnen gendergerechte Sprache sei. Fast zwei Drittel gaben an, das Thema sei für sie weniger oder gar nicht wichtig.
In Hamburg, und das ist neu, könnte die Ablehnung nun tatsächlich etwas bewirken. Ist die Initiative erfolgreich bis zum Schluss, könnte sich in der Hansestadt zuspitzen, was bereits seit Jahren für Debatten sorgt. Auf der einen Seite die Verfechter einer inklusiven Sprache, die alle Menschen ansprechen soll, Frauen und Männer gleichermaßen sowie nonbinäre Personen. Auf der anderen Seite jene, die zumeist an der männlichen Form festhalten möchten: die Wähler, damit sollen alle gemeint sein.
Es tobt ein ideologischer Kampf
Längst geht es dabei um mehr als Sprache, zwei Weltbilder prallen aufeinander: Die einen werfen den anderen vor, in einer politisch überkorrekten Blase zu leben und Sprachvorgaben erteilen zu wollen; die anderen finden die Gegenseite diskriminierend und reaktionär. Konservativ gegen links-grün, „Gender-Gaga“ gegen Identitätspolitik. Es tobt ein ideologischer Kampf. Mittendrin: Sabine Mertens.
Ein paar Tage nach der Unterschriftensammlung empfängt Mertens in ihrem Büro in Altona. Aus ihren Fenstern blickt sie auf voll gesprühte Häuserfassaden. Hier steht der schwarze Couchtisch mit der Indianerfigur, hängt der kleine Druck mit den Inbusschlüsseln an der Wand. In ihrem „Institut für Personalentwicklung“ lässt Mertens ihre Klientinnen und Klienten unter anderem Bilder zeichnen, um sich auch ohne viele Worte auszudrücken.
Sie selbst beginnt kurz nach Beginn des Gesprächs zu schweigen. Just an diesem Tag gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie gegen Mertens ermittelt. Als sie Anfang Februar ihre Initiative unter großem Medienauflauf im Rathaus anmeldete, sagte Mertens dem „Hamburger Abendblatt“: „Wenn wir jetzt alle schwul, lesbisch und trans werden sollen, dann ist die Evolution zu Ende.“
Homosexuelle oder queere Menschen will sie nicht beleidigen
Was wollte sie mit diesem Satz ausdrücken? Trifft sie das, die Strafanzeige wegen Beleidigung?
Mertens möchte sich dazu nicht äußern. Die Unterstützung, sagt sie nur, sei ungebrochen. Witze, Sarkasmus, Zynismus – das habe sie noch nie erklärt. „Und ich fange auf meine alten Tage nicht damit an.“ Mertens ist vorsichtig – sie weiß, dass ihr Ruf mit dem Erfolg der Volksinitiative verknüpft ist. Später schreibt sie eine E-Mail und beteuert, es liege ihr fern, „schwule, lesbische oder queere Menschen zu beleidigen oder zu verletzen“.
Ihr Gender-Aufstand wirkt wie die Spätmission ihres Lebens. Schon im vergangenen Jahr hat sie eine Onlinepetition gegen „Gendersprache“ gestartet und bis heute mehr als 66?.000 Stimmen gesammelt. Einige Jahre zuvor ist Mertens juristisch gegen einen Verlag vorgegangen, der in einem Fachartikel von ihr Gender-Formen einbaute. Texte und E-Mails, in denen gegendert wird, liest sie grundsätzlich nicht. Sie findet, dass Bücher eine „Kennzeichnungspflicht“ haben sollten, wenn darin gegendert wird.
Zustimmung auf der Straße
Mertens beruft sich auf den Rat für deutsche Rechtschreibung, der in seiner letzten Stellungnahme nicht empfiehlt, Genderformen „zu diesem Zeitpunkt“ ins amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung aufzunehmen – das war 2021. Doch wie sieht es in zehn Jahren aus, wenn mehr Generationen mit geschlechtsneutraler Sprache aufgewachsen sind? Was bereitet Mertens solche Angst, solch ein Unbehagen?
Wenn Mertens übers Gendern spricht, ist oft von der „Standardsprache“ die Rede. Jede Gesellschaft brauche Standards – „sonst würde nichts funktionieren“. Es ist diese zweite gesellschaftliche Ebene, die sie häufig anschneidet. Der Sprachwandel, sagt sie, komme natürlicherweise von „unten nach oben“ – und könne nicht von einer „elitären Minderheit“ verordnet werden. Wen sie damit vorrangig meint, ist klar.
Schon 2020 schrieb sie in einem Gastbeitrag für ein sehr konservatives Internetportal: „An vorderster Front wird Sprache besonders von den Grün*innen instrumentalisiert, um Bürgern die totalitäre Ideologie des Feminismus als Das-neue-Besser beizukloppen.“ Die „würdelosen“ Methoden der „Genderlobby“ gefährdeten die Demokratie nicht nur, sondern zersetzten sie. Für Mertens, das wird deutlich, geht es ums gesellschaftliche Ganze.
Fast nur Zustimmung am Anti-Gender-Stand
Ihre oft martialische Sprache passt zu dem Duktus ihrer ideologischen Heimat, dem „Verein Deutsche Sprache“ (VDS). Der VDS, der die deutsche Sprache fördern und „bewahren“ will, hat sich den Feldzug gegen die Gendersprache in seine Leitlinien geschrieben. Vor einigen Jahren beklagte der erste Vorsitzende Walter Krämer in einer Mitgliedszeitschrift den „aktuellen Meinungsterror unserer weitgehend linksgestrickten Lügenmedien“ und die „Unterwerfung der Medien unter eine obrigkeitsstaatliche Einheitssichtweise der Dinge“.
Mertens findet, er sei ein „großartiger Typ“, „witzig“, „eloquent“. Seit 2018 fungiert sie als „Leiter Gender-AG“ in dem Verein.
Was sie so selbstbewusst macht, hört man an ihrem Anti-Gender-Stand am Jungfernstieg. Sie bekommt fast nur Zustimmung. Den 77-jährigen Rentner stört der „moralische Zeigefinger“ einer Minderheit, die ihm neben dem Gendern vorschreiben wolle, weniger Fleisch zu essen und nur noch Fahrrad zu fahren. Gesetzestexte zu formulieren sei jetzt schon schwierig – wie werde das erst, wenn dann noch gegendert werde, fragt der Notar mit dem karierten Schal.
Doch auch Mertens muss ab und zu diskutieren. Ein Hamburger Politikprofessor beispielsweise wirft ihr vor, die Initiative wolle das intellektuelle Klima in „die 50er-Jahre zurückdrehen“. Damit spiele sie der AfD in die Hände.
Die CDU sammelt Unterschriften
Doch auch andere politische Kräfte wollen von Mertens Bewegung profitieren. Die Hamburger CDU sammelt mit ihren Ortsvereinen sogar Unterschriften für die Initiative – auch nach dem Eklat. Die Verbindung scheint perfekt: Bis vor Kurzem führte den Landesverband Christoph Ploß, der bundesweit zu den lautesten Polterern gegen Gendersprache gehört. Seine CDU will sich offenbar mit einer Sache gemein machen, die Wählerstimmen verspricht für die nächste Bürgerschaftswahl 2025 – zugleich ein potenzieller Termin für den möglichen Volksentscheid.
Die bundesweite Debatte ist bereits so stark verknüpft mit Reizbegriffen wie „politische Korrektheit“ oder „Sprachpolizei“, dass schon das Schlagwort „gendern“ ausreicht, damit viele Passantinnen und Passanten für die Initiative unterschreiben. Mertens Erfolg findet bereits Nachahmer: In Baden-Württemberg hat ein Heidelberger Rechtsanwalt eine ähnliche Volksinitiative gegründet.
Der Leiter des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Henning Lobin, führt die Resonanz darauf zurück, dass Sprache kein abstraktes Thema sei, sondern etwas sehr Persönliches – „jeder Mensch spricht, hört, schreibt“. Wenn versucht werde, Einfluss auf Sprache auszuüben, „ruft das selbstverständlich Widerstände hervor“.
Der Hamburger Politikprofessor zumindest, der Mertens am Jungfernstieg vorwarf, der AfD den Weg zu ebnen, dreht sich zum Abschied noch einmal zu ihr um und wünscht ein „herzliches Misslingen“.