Meinung

Die Ruck-Rede von Kanzler Merz hat ein Glaubwürdigkeitsproblem

Um eine „neue Einheit“ in Deutschland Wirklichkeit werden zu lassen, muss die Bundesregierung nicht nur selbst zu mehr Einigkeit finden, kommentiert unser Autor.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) spricht anlässlich der zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit 3. Oktober in Saarbrücken. | © Jean-Christophe Verhaegen/POOL AFP/dpa

Felix Huesmann
03.10.2025 | 03.10.2025, 15:22

Es sind große Fußstapfen, in die sich Friedrich Merz mit seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit begibt. Er wolle weniger zurück und viel mehr nach vorne blicken, erklärt er in Saarbrücken. Die Zeit dafür ist denkbar gut: Wir leben in einer historischen Zeit des Umbruchs. Alte Gewissheiten – allen voran die vom Frieden in Europa – sind passé. Freiheit und Demokratie sind global unter Druck und werden auch bei uns in Deutschland zunehmend angegriffen. Unsere Wirtschaft schwächelt, die Weltwirtschaftsordnung gerät zunehmend aus ihren Fugen und inmitten der rasanten Entwicklung neuer Technologien entscheidet sich, wer künftig vorn mitspielt und wer auf absehbare Zeit abgehängt ist.

Merz wagt vor diesem Hintergrund den Rückgriff auf die viel beachtete Berliner Rede von Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1997. „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, forderte dieser damals. Einen Ruck braucht es auch heute. Doch das Problem ist: Merz’ Bundesregierung sendet derzeit wenig entsprechende Signale ins Land. Sie fällt stattdessen eher durch laut hörbares Ruckeln auf.

Viele Diagnosen des Bundeskanzlers sind richtig: Es fehlt an Einigkeit, Kompromissfähigkeit und Aufbruchsgeist. Wenn Merz sagt, Verantwortung liege nicht nur bei der Politik, sondern bei allen, stimmt auch das. Doch der Appell an die Gesellschaft hätte bessere Chancen, auf offene Ohren zu treffen, ginge die Bundesregierung selbst mit einem besseren Beispiel voran.

Die Lage in Deutschland ist doppelt vertrackt

Die Lage ist doppelt vertrackt: Äußere Bedrohungen schwächen die innere Einigkeit. Dabei brauchen wir genau diese Einigkeit, um nach außen standfest zu sein. Deutschland wird nur dann als Teil eines starken Europas gegen die Bedrohung aus Russland bestehen, wenn es im Inneren zu Konsens und Kompromissen findet. Und es wird Trumps Zollpolitik und das offene Infragestellen transatlantischer Partnerschaften nur dann erfolgreich begegnen, wenn Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam Kurs halten.

Wie soll das also funktionieren? Wie soll Deutschland wirtschaftlich wieder zu mehr Erfolg finden? So wie Herzog 1997 drängt Merz heute auf Bürokratieabbau, Deregulierung, mehr Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und eine Reform des Sozialstaats. All das braucht es zwar, dabei darf aber das Augenmaß nicht verloren gehen. Wenige Jahre nach Herzogs Ruck-Rede verabschiedete die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010. Auch in den 2000er Jahren waren Reformen unausweichlich. Doch die damaligen Sozialreformen haben Spannungen und Spaltungen in der deutschen Gesellschaft eher vergrößert als abgebaut. Diesen Fehler sollte die Bundesregierung heute nicht wiederholen. Die Ängste vor sozialem und finanziellem Abstieg sind ohnehin schon groß – und von ihnen profitieren vor allem Populisten und Demokratiefeinde.

Wer mehr Leistung fordert, muss auch Sicherheit zusagen

Reformen brauchen Leitplanken: Wer mehr Leistung fordert, muss auch Sicherheit zusagen. Wer Fehlanreize beseitigt, muss Aufstiegschancen stärken. Besonders die Union muss aufpassen, dass sie nicht den Eindruck erweckt, die Lasten vor allem nach unten verteilen zu wollen.

Um die von Merz ausgerufene „neue Einheit“ Wirklichkeit werden zu lassen, muss die Bundesregierung nicht nur selbst zu mehr Einigkeit finden. Sie muss entscheiden und verständlich erklären, wem sie warum etwas abverlangt – und was das Land dafür zurückbekommt. Wenn sie das nicht schafft, wird die alte Spaltung nur noch größer. Und gerade angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa unmittelbar stehen, können wir uns das auf keinen Fall leisten.