
Wenn es in den letzten Jahren um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ging, dann meist im Kontext großer Institutionen wie der katholischen Kirche. Das hatte mit der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieser Institutionen zu tun und war insofern berechtigt. Allerdings haben die Berichte über teils Jahrzehnte zurückliegende Taten einen problematischen Nebeneffekt: Es entstand der antiquierte Eindruck, als spiele sich der Missbrauch weiterhin ausschließlich in der analogen Welt ab. Dies verdeckte den Blick dafür, dass sich immer mehr Delikte in die digitale Welt verlagern.
Zwar sagte die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, bei der Pressekonferenz zur Präsentation der aktuellen Daten, dass 60 Prozent der bekanntwerdenden Taten unverändert im sozialen Nahbereich stattfänden: in der Familie, durch Freunde oder Nachbarn. Sie sagte aber zugleich: „Im Netz explodiert das Risiko sexueller Gewalt.“ Dem müssen die Zuständigen Rechnung tragen: Eltern, Erzieher, Lehrer – und die Politik. Zugleich ist es vonnöten, dass Dunkelfeld aufzuhellen.
Am Donnerstag war zunächst von der Speicherung von IP-Adressen die Rede, besser bekannt als Vorratsdatenspeicherung. Darüber wird seit Ewigkeiten gestritten, stets verbunden mit dem Verdacht, der Kampf gegen sexuelle Gewalt werde nur als Einfallstor genutzt, um das Instrument Zug um Zug auf andere Delikte auszuweiten und schließlich zum eigentlichen Ziel vorzustoßen: der anlasslosen Massenüberwachung. Allerdings ist der Gedanke naheliegend, dass der Staat technisch Schritt halten muss. Und der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, weist unablässig darauf hin, dass der Kampf gegen sexuelle Gewalt ohne Vorratsdatenspeicherung nicht zu bestehen sei.
Eltern haben oft wenig technisches Verständnis
Im Übrigen kann es zwar nicht schaden, an den guten Willen der Eltern zu appellieren, wenn es um den Umgang mit digitalen Endgeräten und die Gefahr geht, Pädo-Kriminelle könnten sie zur Kontaktanbahnung auf unverfänglich erscheinenden Plattformen nutzen und Opfer von dort weglocken. Dieser Wille findet aber seine Grenze im beschränkten Zeit-Reservoir vieler Eltern, ihrem oft reduzierten technischen Verständnis und wohl auch ihrer Fantasie, was im Netz alles möglich ist. Online gilt im Zweifel: Es gibt nichts, was es nicht gibt.
Daher sind digitale Gegenmaßnahmen unumgänglich: Filter für Nacktaufnahmen oder Safe Spaces, in denen Kinder und Jugendliche garantiert unter sich sind. Manches ist bereits machbar, anderes muss erst entwickelt werden. Wieder anderes wäre rasch Praxis, wenn Online-Sicherheit – wie Kerstin Claus nahelegte – zum Wettbewerbsfaktor würde. So oder so ist noch ein weiter Weg zu gehen, damit Kinder und Jugendliche den Tätern nicht ausgeliefert sind. Gehen wir ihn.
INFORMATION
Hilfsangebote
Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de
Kinder und Jugendliche, die Missbrauch erlebt haben, können sich montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr an die „Nummer gegen Kummer“ (116 111) wenden. Auf www.nummergegenkummer.de gibt es auch die Möglichkeit, mit den Beratern zu chatten.
Wer sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt oder pädophile Neigungen bei sich vermutet, findet Ansprechpartner beim Projekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité. Auf www.kein-taeter-werden.de und unter 030-450 529 450 gibt es kostenlose Informationen. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht.