Von Polizeikugel getroffen

Schuss auf Zwölfjährige: Griff das Mädchen die Polizei an?

NRW-Innenminister Herbert Reul äußerte sich zum Vorfall in Bochum, bei dem ein Schuss auf eine Zwölfjährige fiel. | © Henning Kaiser/dpa

28.11.2025 | 28.11.2025, 15:33

Dem Schuss der Polizei auf ein zwölfjähriges Mädchen in Bochum sind nach Angaben der Ermittler dramatische Sekunden vorausgegangen. Die eingesetzten Polizisten hätten einen möglichen Messerangriff befürchtet und seien deshalb im Treppenhaus vor der Wohnungstür in Stellung gegangen. Als das Mädchen mit zwei Messern in der Hand erschienen sei, sei der Schuss gefallen, sagte Oberstaatsanwalt Benjamin Kluck in einer Sondersitzung des NRW-Innenausschusses und des Familienausschusses.

Doch der Anwalt der Zwölfjährigen hat Zweifel an dieser Darstellung der Ermittlungsbehörden. Nach Gesprächen mit der Mutter und dem Bruder des Mädchens gehe er davon aus, dass «kein Messerangriff vorlag, und erst recht kein Messerangriff mit unmittelbarer Lebensgefahr für die Beamtinnen und Beamten», sagte Simón Barrera González. Der Landesregierung warf er vor, sich einseitig auf die Seite der Polizisten zu stellen.

In diesem Mehrfamilienhaus in Bochum-Hamme hat sich der Einsatz abgespielt. (Archivbild) - © Christoph Reichwein/dpa
In diesem Mehrfamilienhaus in Bochum-Hamme hat sich der Einsatz abgespielt. (Archivbild) (© Christoph Reichwein/dpa)

Das Mädchen hatte bei dem Einsatz in der Nacht zum 17. November einen Durchschuss in der Brust erlitten und schwebte in Lebensgefahr. Nach zwei Operationen sei die Zwölfjährige «aktuell wach und ansprechbar», sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Es sei aber noch eine dritte Operation nötig.

Zwölfjährige brauchte lebenswichtige Medikamente

Der Anwalt der Zwölfjährigen, Simón Barrera González, glaubt nicht, dass es einen Messerangriff mit unmittelbarer Lebensgefahr für die Beamten gegeben hat. - © Henning Kaiser/dpa
Der Anwalt der Zwölfjährigen, Simón Barrera González, glaubt nicht, dass es einen Messerangriff mit unmittelbarer Lebensgefahr für die Beamten gegeben hat. (© Henning Kaiser/dpa)

Die Beamten waren ausgerückt, weil die Zwölfjährige in ihrer Wohngruppe für gehörlose Kinder und Jugendliche in Münster vermisst wurde. Sie war zu ihrer Mutter nach Bochum gefahren.

Ein solcher Sucheinsatz sei kein Einzelfall gewesen, betonte Reul. Allein in diesem Jahr sei das Mädchen schon achtmal von der Polizei gesucht worden. «Alle diese Fälle sind dabei ohne Konflikte oder Zwischenfälle aufgeklärt worden», betonte der Minister.

Gleichzeitig hätten die Beamten unter Zeitdruck gestanden. Es sei klar gewesen, dass die Zwölfjährige noch in der Nacht ein wichtiges Medikament nehmen musste, «weil sonst eine Lebensgefahr entstehen kann», betonte der Minister. «Je später es wurde, desto mehr kamen die Polizisten in die Situation, dass sie wussten, es wird für das Mädchen ohne die Medikamente gefährlich.»

Stundenlang öffnete niemand die Wohnungstür

Insgesamt dreimal sei die Polizei im Laufe des Abends an der Wohnung der ebenfalls gehörlosen Mutter gewesen. Die Beamten hätten versucht, zu klingeln und mit Taschenlampen auf sich aufmerksam zu machen - doch stundenlang sei ihnen nicht geöffnet worden, sagte Reul. Mehrmals seien die Betreuer aus der Wohngruppe der Zwölfjährige per Videotelefonie in Kontakt mit der Mutter gewesen.

Doch erst mitten in der Nacht gegen 1.30 Uhr habe die Mutter den vier Polizisten die Wohnungstür geöffnet. Sie sei «emotional aufgebracht gewesen» und habe um sich geschlagen, berichtete Oberstaatsanwalt Kluck. Zwei Beamte hätten sie deshalb zu Boden gebracht und fixiert.

Die Zwölfjährige und ihr 21 Jahre alter Bruder hätten das aus dem Flur beobachtet. Beide seien in die Küche gegangen, hätten die Tür geschlossen. Zwei Beamte hätten davor gestanden. «Sie nahmen aus der verschlossenen Küche Geräusche wahr, die für sie auf ein hastiges Öffnen von Schubladen und Wühlen nach Messern schließen ließen», berichtete Kluck. «Lautstark» hätten die beiden daraufhin ihre Kollegen im Treppenhaus vor einer möglichen Bedrohung mit einem Messer gewarnt. Auch den Bruder soll das Mädchen zwischenzeitlich bedroht haben.

Polizisten mit vorgehaltener Waffe in Stellung

Die beiden Beamten hätten sich im Treppenhaus mit ihren Kollegen in zwei Metern Abstand zur Wohnungstür postiert - einer mit gezogenem Taser, zwei mit vorgehaltener Dienstwaffe. Kurz nach den Beamten sei die Zwölfjährige erschienen. «Dabei hielt sie zwei größere Küchenmesser in ihrer ausgestreckten linken Hand, deren Klingen in Richtung der Beamten zeigten», berichtete der Staatsanwalt.

Weil sie mit den Messern weiter auf die Polizisten zugegangen sei, habe ein Beamter seine Dienstwaffe abgefeuert, ein anderer den Taser. Mit einem Durchschuss in der Brust sei das Mädchen zu Boden gegangen.

Gegen den Polizisten, der mit seiner Dienstwaffe geschossen hat, werde wegen versuchten Totschlags ermittelt, sagte Kluck. Gegen den Beamten, der mit dem Taser schoss, ermittele man wegen Körperverletzung im Amt. Beide hätten sich zu dem Einsatz bislang nicht geäußert und machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Darüber hatte zuvor der «Kölner Stadt-Anzeiger» berichtet.

Anwalt übt Kritik

Der Anwalt des Mädchens, Simón Barrera González, warf der Landesregierung und den Ermittlungsbehörden fehlende Neutralität vor. «Da ist so viel offen. Deshalb empfinde ich es als extrem besorgniserregend, dass die Strafverfolgungsbehörden und insbesondere auch der Minister Reul sich so frühzeitig auf die Darstellung einer angeblichen Notwehrsituation festlegen», sagte er.

Die Polizisten seien in dem Treppenhaus nicht in die Enge getrieben gewesen und hätten sich der Situation einfach erstmal entziehen können. «Man stand eben nicht mit dem Rücken zur Wand», betonte der Anwalt.

«Wenn wirklich eine solche Eile bestand wegen der Medikamente, warum hatte die Polizei die Medikamente dann nicht dabei? Warum legt man nicht einfach das Medikament vor die Tür - und bei Tageslicht lässt sich die Situation dann ohne Waffen klären?»

Familie ist gehörlos

Besonders schwierig war der Einsatz wohl dadurch, dass Tochter, Mutter und Bruder gehörlos sind. Einen Gebärdendolmetscher hatte die Polizei bei dem Einsatz nicht vor Ort dabei. Innenminister Reul will deshalb nun prüfen, wie die Polizei für solche Situationen besser geschult werden kann. In der kommenden Woche sei ein Austausch mit mehreren Gehörlosen-Verbänden geplant.

Dass die Polizei auf ein Kind geschossen habe, sei nicht grundsätzlich falsch. «Der Einsatz der Schusswaffe kann gerechtfertigt sein – auch gegen eine Zwölfjährige. Wir alle wissen, wie gefährlich das Tatmittel Messer sein kann», betonte der Minister. Es seien aber auch noch viele Details ungeklärt. «Viele der Fragen, die Sie, die ich, die die Öffentlichkeit haben, werden erst im Laufe dieses Ermittlungsverfahrens zu beantworten zu sein.»