Blick in Akten

„Nächste Schuldzuweisung“: Wie OWL-Behörden nach dem Solingen-Attentat unter Druck standen

Bei dem Messeranschlag auf einem Stadtfest tötete ein Mann drei Menschen. Behörden-Mitarbeiter aus der Region weisen Vorwürfe des Landes entschieden zurück.

Bei dem Anschlag in Solingen waren im Sommer 2024 drei Menschen ums Leben gekommen. Ein Untersuchungsausschuss befasst sich mit möglichen Behördenfehlern. | © dpa

Ingo Kalischek
21.11.2025 | 21.11.2025, 05:00

Düsseldorf/Bielefeld. Der Anschlag von Solingen im August 2024 hatte bundesweite Bestürzung ausgelöst. Damals erstach der Syrer Isaa al H. auf dem Solinger Stadtfest drei Menschen und verletzte neun weitere zum Teil schwer. Ein Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag untersucht mögliche Behördenfehler rund um die Tat. Ein Blick in die Akten zeigt jetzt, wie groß der Druck auf Beteiligte in der Region Ostwestfalen-Lippe war. Sie wehren sich in eindringlichen Worten gegen Schuldzuweisungen des Landes.

Der Täter sollte eigentlich bereits rund ein Jahr vor der Tat, im Sommer 2023, im Zuge der „Dublin-Verordnung“ nach Bulgarien abgeschoben werden. Dazu kam es aber nicht. Zu dieser Zeit war der Syrer in einer Flüchtlingsunterkunft in Paderborn, der ehemaligen Dempsey-Kaserne, untergebracht.

Er sollte am 5. Juni 2023 nachts durch Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Bielefeld abgeholt – und zum Flughafen gebracht werden. Dort stand ein Flugzeug zur Ausreise des Mannes bereit. Da der Syrer aber in jener Nacht in der Unterkunft nicht anzutreffen war, zogen die Mitarbeiter wieder ab - und der Versuch der Abschiebung scheiterte.

OWL-Behörden kritisieren Schuldzuweisung

Am Tag drauf, also nur ein paar Stunden später, ließ sich der Mann dann wieder in der Unterkunft blicken. Die Leitung der Flüchtlingsunterkunft Paderborn habe daraufhin versäumt, dies der ZAB weiterzumelden, kritisierte NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) rund ein Jahr später im Rahmen der politischen Aufarbeitung. Genau das führte zu großer Aufregung in den OWL-Behörden.

Josefine Paul, Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration (Grüne), steht politisch unter Druck. - © Henning Kaiser/dpa
Josefine Paul, Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration (Grüne), steht politisch unter Druck. (© Henning Kaiser/dpa)

„Hier wird eindeutig eine Schuldige gesucht und sie wurde nun gefunden“, schrieb die Leiterin der Paderborner Flüchtlingsunterkunft kurz nach der Aussage Pauls Ende August 2024 an Mitarbeiter der Bezirksregierung Detmold. „Die, die an der letzten Stelle steht, muss für Versäumnisse und völlige Unwissenheit von Politikern herhalten“, zeigte sich die Leiterin entsetzt. „Dank Frau Ministerin Paul stehe ich als Person im Fokus.“ Sie stehe nun unter „massivem Druck“ und habe keine Idee, wie sie aus „dieser Situation“ herauskommen könne.

Ein Mitarbeiter der Bezirksregierung antwortete der Paderborner Unterkunftsleiterin in einem Schreiben, dass man im Dezernat angesichts der Berichterstattung über die Aussagen von Ministerin Paul „empört“ sei.

Zweites Versäumnis sei laut Paul gewesen, dass die zuständige Bielefelder ZAB keinen neuen Rückführungsflug für den Syrer angemeldet habe. Dadurch verstrich die Überstellungsfrist innerhalb der EU, weshalb der Syrer einen Duldungsstatus in Deutschland erhielt - und nach Solingen zugewiesen wurde. Dort beging er schließlich im Sommer 2024 den folgenschweren Messerangriff.

Ärger über NRW-Ministerin Paul

Im Zuge der Aufarbeitung des Falles wandte sich die Leiterin aus Paderborn Anfang September 2024 erneut an die Mitarbeiter der Bezirksregierung. „Die nächste Schuldzuweisung von Frau Paul“. Die Ministerin sei „nach wie vor“ auf der Suche nach „Schuldigen“ und „nicht nach Lösungsvorschlägen“. Sie frage sich nun wirklich, wann gefordert werde, dass sie ihre „Sachen packe“, schrieb die Leiterin entrüstet.

Paul war nach dem Anschlag auch deshalb politisch unter Druck geraten, da sie selbst für Regierungsmitglieder in den Stunden und Tagen nach der Tat nur schlecht zu erreichen gewesen sein soll. Reagiert hatte die Ministerin auf den zunehmenden öffentlichen Druck hin dann unter anderem mit einem Erlass.

Der sieht vor, dass bei gescheiterten Rückführungen von Fällen wie die des Syrers künftig grundsätzlich ein zweiter Abschiebeflug zu buchen und dies schriftlich festzuhalten sei. Die Experten vor Ort überzeugte das offenbar überhaupt nicht.

Behörden-Mitarbeiter bezeichnet Erlass als „schwachsinnig“

Als „schwachsinnigen Erlass“ stempelte der Leiter der Landesflüchtlingsunterkunft Herford die neue Regelung ab. Denn oft dauert es nach einer gescheiterten Rückführung viele Monate, bis ein neuer Flug organisiert ist. Dann sind die Fristen für eine solche Rückführung (sechs Monate) laut EU-Recht aber oft schon überschritten. So wie im Fall des Attentäters von Solingen.

Es sei zum damaligen Zeitpunkt „unmöglich“ gewesen, einen Flug zu buchen, der eine Überstellung innerhalb der vorgegebenen Frist ermöglicht hätte, schrieb ein Mitarbeiter der Stadt Bielefeld. „Es war tatsächlich unmöglich“. Paul habe sich entgegen der Ankündigung auch nicht vorab bei den Beteiligten der Behörden gemeldet, um „direkte Informationen“ dazu einzuholen, sondern sie habe sich „unmittelbar an die Presse gewandt“, ärgerte sich der Mitarbeiter der Stadt Bielefeld.

Behördenmitarbeiter aus OWL hielten Erlass für Aktionismus

Zwar hatte Paul seinerzeit erklärt, dass es sich zwar um „Versäumnisse“, nicht aber um „Fehler“ der Behörden gehandelt habe, da die Verfahrensabläufe nicht klar geregelt seien. So seien gescheiterte Rückführungen im Zuge des Dublin-Systems wie im Falle von Solingen bundesweit sogar die Regel.

Dennoch hatten die Behördenmitarbeiter aus OWL ganz offensichtlich den Eindruck, dass Paul die politische Verantwortung für die Tragödie zumindest in Teilen an nachgelagerte Ebenen weiterreichen wollte. Auch den vom Land eilig geschnürten Erlass als politische Reaktion hielten die Behördenmitarbeiter aus OWL offenbar für reinen Aktionismus.