Herr Linnemann, 100 Tage Rot/Schwarz, welche Schulnote geben Sie der Regierung? Carsten Linnemann: Insgesamt eine sehr gute Drei. Außenpolitisch sogar herausragend. Friedrich Merz hat Deutschland zurückgebracht auf die internationale Bühne. Innenminister Alexander Dobrindt hat in der Einwanderungspolitik umgesetzt, was wir vor der Wahl angekündigt haben. In der Wirtschaftspolitik haben wir bessere Abschreibungsmöglichkeiten geschaffen und die Unternehmenssteuerreform verabschiedet. Da müssen wir weitermachen. Aber klar gibt es noch großen Handlungsbedarf. Wenn jetzt im Herbst die notwendigen Reformen kommen, wird es auch insgesamt in Richtung gut bis sehr gut gehen. Die Menschen in Deutschland müssen sehen, dass die Regierung einen Plan hat, der auch umgesetzt wird. Aber die deutsche Wirtschaft schrumpft stärker als erwartet. Linnemann: Umso größer ist der Handlungsbedarf. Richtig, aber Ihre Rezepte greifen nicht. Linnemann: Die angefangenen Reformen werden greifen. Im Übrigen stelle ich die kecke These auf, dass Deutschland nur dann Reformen macht, wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen. So wie vor 20 Jahren, als Gerhard Schröder die Agenda 2010 durchgesetzt hat. Da hatten wir fünf Millionen Arbeitslose und es konnte so nicht weitergehen. Und das sagen die Menschen heute auch. Der Vertrauensvorschuss, den die Wähler Ihnen gegeben haben, ist doch schon aufgebraucht. Die Stromsteuerentlastung für alle kommt nicht, keine neuen Schulden waren versprochen, aber 500 Milliarden Kredite für das Sondervermögen aufgenommen, stattdessen Steuersenkung für Gastronomen, Mütterrente. Da fragen sich die normalen Arbeitnehmer: Wo werde ich eigentlich entlastet? Linnemann: Der Koalitionsvertrag war nun mal ein Kompromiss. Entscheidend ist, dass klar ist, wo der Weg hingeht. Das müssen wir im Herbst schaffen. Aber klar, bei der Stromsteuer hätte es besser laufen müssen. Ich bleibe dabei: Die Senkung für alle muss kommen. Wir müssen im Haushalt da die entsprechenden Prioritäten setzen. Wann kommt das denn? Finanzminister Klingbeil hat den Sack genau mit dem Argument zugemacht. Linnemann: Ich werde dafür kämpfen, dass die Entlastung für alle so zügig wie möglich umgesetzt wird. Wenn es im nächsten Jahr nicht geht, dann im übernächsten. Entscheidend ist, dass unsere Wirtschaft wieder ins Wachsen kommt, damit wir uns das leisten können. Bei den Lohnnebenkosten sprechen wir über viel höhere Summen. Was geht da? Linnemann: Da sprechen Sie den wundesten Punkt an. Reformen bei den Sozialversicherungen sind überfällig. Es geht dabei um die Rente, die Gesundheit, die Pflege. Daran wird sich die Koalition messen lassen müssen. Dafür werden jetzt Kommissionen eingesetzt. Die müssen bis Ende des Jahres Ergebnisse liefern. Wir haben als Koalition ein gemeinsames Interesse, dass es funktioniert. Bei der Gesundheitsversorgung zum Beispiel müssen wir die Basisversorgung vor Ort behalten, bei der Spezialversorgung wird das nicht überall mehr möglich sein. Das sind Einschnitte, für die die Koalition den Mut haben muss. Dadurch wird unser System effizienter und im Ergebnis für alle besser. Gehen solche Kürzungen bei der Rente auch? Die kann man kaum kürzen, angesichts der vielen Rentner, die ja Wähler sind. Linnemann: Mir geht es immer um die Sache, nicht um Stimmenfang bei einzelnen Bevölkerungsgruppen. Im Gegenteil: Generationengerechtigkeit muss gerade in der Sozialpolitik wieder einen höheren Stellenwert bekommen. Deshalb werden wir zum Beispiel die Frühstartrente einführen. Ab 1.1.2026 werden alle Sechsjährigen jeden Monat zehn Euro bekommen bis zum 18. Geburtstag. Danach können sie privat weitermachen und haben so bis zur Rente zusätzlich etwas angespart. Darüber hinaus werden wir faktisch einen flexiblen Renteneintritt ermöglichen. Das ist weltweit neu. Jeder, der das Rentenalter erreicht, kann selbst entscheiden, ob er weiterarbeiten will oder nicht. Als Anreiz können Rentner dann steuerfrei 2.000 Euro im Monat verdienen. Das ist auf einem guten Weg und kommt 2026 als Aktivrente. Und ein soziales Pflichtjahr für Rentner, das ja gerade heiß diskutiert wird? Linnemann: Sie wissen ja, dass ich ein großer Fan eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres für junge Menschen bin. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt halte ich ein solches für unabdingbar. Viele Senioren engagieren sich bereits jetzt sehr stark. Ich persönlich halte von einer Dienstpflicht für sie nichts. Nennen Sie uns doch mal die fünf Big Points für den Herbst der Reformen. Linnemann: Da ist zunächst, dass im Bereich des Bürokratieabbaus spürbar etwas passiert. Sonst machen wir uns lächerlich. Wir ersticken in Bürokratie, und das ist ein Misstrauensvotum gegen den Bürger. Man traut ihm nicht zu, ehrlich zu sein. Es gibt zwar schwarze Schafe, aber das sind nicht 99,9 Prozent. Man benötigt etwa nicht zig Beauftragte für irgendetwas. Das kann der Unternehmer selbst entscheiden. Ich würde das angehen. Zweiter großer Punkt ist die schon genannte Aktivrente. Drittens: Die Bürgergeldreform: Hier müssen wir liefern. Wer zumutbare Arbeit wiederholt nicht annimmt, bekommt keine Leistungen. Der Staat muss dann davon ausgehen, dass jemand nicht bedürftig ist. Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten gehen, ansonsten gibt es kein Geld. Wenn wir das hinbekommen, zahlt das auf das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ein. Dann hoffe ich viertens, dass wir die Bundesexperimentierklausel richtig aufgleisen. Was ist das denn – Bundesexperimentierklausel? Linnemann: Damit ist gemeint, dass alle Landkreise Dinge ausprobieren können, und wenn die funktionieren, machen wir das in ganz Deutschland. Ein Beispiel: Im Kreis Paderborn gelten demnächst Bauanträge spätestens dann als genehmigt, wenn der Antragsteller nach drei Monaten nichts hört. Wenn das klappt, machen wir das überall. Einfach mal machen (amüsiert sich über seinen eigenen Satz, den er nicht das erste Mal benutzt). Und schließlich müssen wir im Bereich Forschung, Megatrends und Hightech vorankommen. Wie soll das eine Koalition schaffen, die vor sich hin stottert? Linnemann: Wenn die Menschen das Gefühl haben, die wurschteln da rum und haben keinen Fahrplan und halten ihre Versprechen nicht ein, wird es schwierig. Es ärgert mich, dass wir Fehler, die passiert sind, nicht verhindert haben. Daraus müssen wir lernen. Und genau das geschieht bereits. Wichtiger Punkt. Die Wirtschaft schwächelt und das beginnt ja erst am Arbeitsmarkt anzukommen. Was passiert, wenn die Arbeitslosigkeit wieder bei vier Millionen und mehr liegt? Linnemann: Hinzu kommt noch, dass sich die Arbeitswelt durch Künstliche Intelligenz radikal verändern wird. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir nicht nur alle Kraft dareinlegen, unsere Wirtschaft zu stabilisieren, sondern auch in der Bildungspolitik Antworten finden. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass insbesondere die jungen Menschen fit für den Arbeitsmarkt der Zukunft sind. Ja, aber was bedeutet das gesellschaftspolitisch? Linnemann: Ich habe durchaus die Sorge, dass Menschen sich von den technologischen Entwicklungen überrollt fühlen und den Anschluss verlieren. Deswegen ist es mir besonders wichtig, dass die Politik diese Prozesse aktiv begleitet und noch viel stärker auf lebenslanges Lernen setzt. Es ist zwar nicht Ihr Kernthema. Aber wie schätzen Sie die Lage nach den Ukraine-Gipfeln ein? Und hat der Gipfel Putin - Selenskyj Chancen auf Erfolg? Linnemann: Das kann niemand sagen, aber Friedrich Merz arbeitet intensiv mit den europäischen Partnern zusammen. Die sprechen so häufig miteinander, dass sie als Team zusammengewachsen sind. Da ist etwas Neues entstanden. Europa spricht mit einer Stimme. Das hat Friedrich Merz geschafft. Deutschland hat eine Führungsrolle in Europa übernommen. Mit allen Konsequenzen, die das nach sich ziehen kann. Wie den Einsatz deutscher Truppen in der Ukraine? Linnemann: Friedrich Merz hat aufgrund seiner Erfahrungen die besten Beziehungen zu Donald Trump. Aber trotzdem: Putin ist ein Diktator und wir müssen auch über die Sicherheitsgarantien reden. Aber wir müssen das Schritt für Schritt machen und nicht den Dritten vor dem Ersten. Aber man kommt da kaum wieder raus, wenn man eine Führungsrolle beansprucht? Deutschland kann sich keinen schlanken Fuß mehr machen. Linnemann: Zunächst einmal muss es Frieden in der Ukraine geben. Alles andere sehen wir danach. Da sind wir auch bei den Flüchtlingen aus der Ukraine. Es gibt den Vorschlag, sie nicht mehr vom Jobcenter über Bürgergeld finanzieren zu lassen, sondern durch das Asylbewerber-Leistungsgesetz, was deutlich geringer ist. Ist die Kürzung richtig? Linnemann: Ich halte den Schritt für richtig. Wir wollen das Gesetz ändern und auf das Asylbewerber-Leistungsgesetz umstellen. Da müssen dann aber die Kommunen die Finanzierung übernehmen. Das fällt in deren Bereich. Linnemann: Ja, dann muss der Bund den Kommunen das ersetzen.