
Ihre Wahl ins zweithöchste Staatsamt war eine der ersten großen Überraschungen dieser Legislaturperiode: Julia Klöckner, zuvor CDU-Bundesvize und davor Landwirtschaftsministerin, ist seit März Bundestagspräsidentin - und bleibt auch in dieser Rolle streitbar. In der Woche ohne Bundestagssitzung ist Klöckner in ihrem Wahlkreis unterwegs. Wir erreichen sie per Telefon aus dem Auto.
Frau Klöckner, Deutschland feiert erstmals einen Veteranentag. Rückt damit in den Blick, dass die internationale Sicherheitslage auch für Deutschland deutlich angespannter ist als in den vergangenen Jahrzehnten?
Julia Klöckner: Es rückt erst einmal jeder Soldat und jede Soldatin in den Blick. Es finden 130 Veranstaltungen in ganz Deutschland statt. In Berlin gibt es ein großes Bürgerfest. Es geht um den Dienst für unser Land und den Frieden. Es sollen dabei auch die schwer erträglichen Seiten sichtbar werden. Wir zeigen zum Beispiel die Fotoausstellung „Wounded: The Legacy of War“ von Bryan Adams, die das Objektiv auf Kriegsverletzungen richtet. Zu Ihrer Frage: Ja, das Thema Verteidigungsfähigkeit und Dienst fürs eigene Land und die Gesellschaft ist wieder stärker im Blick. Daher ist mir wichtig: Wenn wir als Parlament die Armee in Einsätze schicken und wenn Abschreckung der Friedenssicherung dient, dann sollte man auch einen Veteranentag feiern. Er ist nicht nur Symbol, sondern auch Versprechen, die Versorgung und Fürsorge für die Veteranen zu verbessern. Denn der Dienst als Soldat endet nicht mit dem Ablegen der Uniform. Er kann neben erfüllender Sinnhaftigkeit auch lebenslange psychische und körperliche Nachwirkungen mit sich bringen.
Wie nehmen Sie aktuell das Ansehen der Bundeswehr in der Bevölkerung wahr?
Gut. Ich fahre öfters Zug, den Soldatinnen und Soldaten in Uniform ja kostenfrei nutzen dürfen. Ich nehme eine positive Wirkung wahr, wenn Soldaten im Zug sind – es gibt ein Gefühl der Sicherheit und das Bewusstsein, dass da jemand Dienst für den Staat, also für uns, leistet. Das wird immer mehr anerkannt, so mein Eindruck.
Die Frage ist, ob sich genug junge Menschen für diesen Dienst entscheiden – brauchen wir die Wiedereinführung einer Wehrpflicht in Deutschland?
Zuerst brauchen wir eine Kultur der Wertschätzung für jene, die sich in diesen Dienst der Allgemeinheit stellen, auch unter Einsatz ihres Lebens. 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, weil wir von einer sehr großen Friedensdividende ausgegangen sind, von einem dauerhaften Frieden in Europa. Heute ist die Lage eine andere. Um als Bündnispartner ernst genommen zu werden, brauchen wir eine andere Truppenstärke. Entweder gelingt das auf freiwilliger Basis oder wir müssen wieder über eine Wehrpflicht nachdenken. Im Koalitionsvertrag steht die Freiwilligkeit – mit dem Zusatz „zunächst”. Das schließt also nicht aus, dass man perspektivisch nach Bedarf und mit entsprechender Infrastruktur eine Wehrpflicht wiedereinführt. Ich persönlich bin ein Fan der allgemeinen Dienstpflicht, die auch andere Bereiche des sozialen Lebens umfasst.
Seitdem Sie das Amt der Bundestagspräsidentin übernommen haben, war ja schon ordentlich was los im Parlament. Sie haben einen Abgeordneten mit Baskenmütze des Parlaments verwiesen und eine Abgeordnete mit Pro-Palästina-Aufschrift auf dem Sweatshirt. Sind Sie strenger als Ihre Vorgänger oder gibt es einfach mehr Provokationen?
Um es klarzustellen: Ich habe die Abgeordneten nicht des Parlaments verwiesen, sondern sie gebeten, die laufende Sitzung zu verlassen, wenn es ihnen nicht möglich ist, entweder das Shirt zu wechseln oder die Mütze abzusetzen. Ich akzeptiere Verstöße gegen die Geschäftsordnung nicht. Dort steht sehr klar, dass eine Auseinandersetzung über politische Inhalte allein durch das Wort geführt wird, nicht durch Sticker, Transparente oder andere Zeichen. Mir war es wichtig, das zu Beginn dieser Legislaturperiode klarzumachen. Im Bundestag sitzen eine stark gewachsene Linke und eine stark gewachsene AfD, die sich gegenseitig scheinbar brauchen, um TikTok und andere Bereiche ihrer jeweiligen Communities zu bedienen. Der Plenarsaal ist aber nicht die Bühne, um Inhalte für die digitalen Medien passgenau zu erstellen. Es geht hier allein um die Auseinandersetzung in der Sache durch das Wort. Da bin ich klar und streng, aber fair. Und da weiß ich das gesamte Präsidium an meiner Seite.
Es ist absolut nachvollziehbar, dass keine politischen Botschaften per Shirt transportiert werden dürfen. War denn diese Kappe auch ein politisches Signal? Oder war sie nur unhöflich?
Wenn ich diese Mütze durchgehen lasse, kommt der nächste mit einer Golfkappe und der dritte mit einem Stahlhelm. Das gehört sich schlichtweg nicht.
Es gab auch Zeiten, da war ein Hoseneinzug bei einer Frau im Parlament eine Revolution.
Es ging in diesen Fällen nicht um die Freiheit der Kleiderwahl, sondern mitunter um bewusste Provokation. Das Parlament ist natürlich kein Laufsteg. Aber wenn wir vom Hohen Haus und seiner Würde sprechen, dann muss man nicht so angezogen kommen, als wolle man zum Sport oder das Zimmer tapezieren. Dass wir über so etwas überhaupt sprechen müssen, zeigt doch, wie die Institution Bundestag ausgetestet wird.
Sie haben auch bereits bemängelt, dass zu wenige Ministerinnen und Minister in den Sitzungen des Bundestags anwesend sind. Haben Sie da etwas erreichen können? Haben die Besserung gelobt?
Nicht nur gelobt, sondern in der vergangenen Sitzungswoche auch gezeigt. Das Parlament ist keine nachgeordnete Regierungsbehörde. Vielmehr ist diese Regierung nur möglich, weil es ein frei gewähltes Parlament gibt. Wenn das Parlament über Gesetze debattiert, die die Exekutive dann umsetzt, dann erwarte ich, dass mindestens zwei Minister auf der Regierungsbank sitzen. Und dass jedes Haus durch einen Staatssekretär vertreten ist.
In der vergangenen Wahlperiode hat die AfD mit Abstand die meisten Ordnungsrufe bekommen. Wie nehmen Sie das Agieren der AfD aktuell war?
Zurzeit kann man festhalten, dass sich ganz links und ganz rechts in einem Wettbewerb befinden. Aber jeder Abgeordnete hat sich an die Spielregeln zu halten.
Das heißt, Sie sehen bei der AfD nicht mehr Regelverstöße als bei den Linken?
Ich sortiere bei der Sitzungsleitung nicht ein, von welcher Seite Verstöße kommen. Für mich gilt die Tat als solche, unabhängig der Fraktionszugehörigkeit. Das hat etwas mit Fairness, Unabhängigkeit und Neutralität einer Bundestagspräsidentin zu tun.
Von Ihren Vorgängern im Amt war sehr wohl zu hören, dass die vor allen Dingen die AfD als Störfaktor und Regelverstoßer im Bundestag wahrgenommen haben. Die Bundestagsprotokolle belegen das auch.
Die Legislaturperiode hat jetzt erst begonnen. Es ist zu früh, um schon ein Fazit zu ziehen. Gerade ist zu beobachten, dass es mehrere Kandidaten für den ersten Platz bei Regelverstößen gibt. Das sollte nicht als Auszeichnung verstanden werden.
Sie selbst haben auch schon Kontroversen im Amt ausgelöst, zum Beispiel mit Ihrem Ordnungsruf an die Kirchen, sich nicht so stark politisch einzulassen
das war kein Ordnungsruf. Ich bin Mitglied der katholischen Kirche und habe auf eine Journalistenfrage nach dem Mitgliederverlust der Kirchen festgestellt, dass das wahrscheinlich verschiedene Gründe hat. Einer der Gründe könnte sein, dass Kirchen sich nicht mehr so laut zu allgemeinen Lebensfragen äußern, sondern zu sehr in der Tagespolitik mitmischen wie NGOs und deshalb weniger gehört werden. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass die Kirchen bei Lebensfragen wie dem Test auf Down-Syndrom als Kassenleistung für Schwangere und beim Schutz ungeborenen Lebens merklich leiser sind als beim Tempolimit.
Die Frage hat noch einen zweiten Teil: Sie haben einen Post auf Ihrem eigenen Account repostet, der sich auf ein Interview der ZDF-Moderatorin Dunja Hayali mit Kanzler Friedrich Merz bezieht. Darin hieß es, Merz habe Hayali fertiggemacht. Warum dieser Stil?
In dem Post ging es um das, was der Bundeskanzler zur Migration sagt und dass er einer Behauptung der Moderatorin widersprochen hat. Und diese praxisnahe Haltung zur Migration des Kanzlers teile ich. Neutral in der Amtsführung als Bundestagspräsidentin zu sein, heißt nicht, keine Meinung mehr zu haben.
In Ihrer Antrittsrede haben Sie den Bundestag dazu aufgefordert, noch einmal über das Wahlrecht nachzudenken. Sehen Sie da Bewegung?
Die regierungstragenden Fraktionen haben sich eine erneute Reform des Wahlrechts als Hausaufgabe in den Koalitionsvertrag geschrieben. Ich halte das für notwendig. Wir haben aktuell zum Beispiel vier verwaiste Wahlkreise, die überhaupt keinen Abgeordneten haben. Obwohl dort jemand direkt gewählt worden ist, sind sie nicht vertreten im Deutschen Bundestag. Das Wahlrecht, wie es jetzt ist, ruft wirklich Repräsentationslücken hervor. In der Bevölkerung, die die Auswirkungen verständlicherweise erst im Nachhinein wahrgenommen hat, hinterlässt das viele Fragen. Das ist nicht förderlich für die Akzeptanz unseres Wahlrechts, wenn ein Abgeordneter vor Ort mit der Mehrheit für ein Direktmandat ausgestattet wird, aber nicht in den Bundestag einziehen darf. Das versteht kein Wähler. Die fragen sich, wieso haben wir dann noch Erst- und Zweitstimme? Wieso soll man überhaupt noch kandidieren und wählen? Das sollten wir korrigieren.