Fünf Jahre nach Corona-Beginn

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Warum viele an Covid-Spätfolgen leiden – und es nicht wissen

200 Symptome definiert die WHO mittlerweile. Vergesslichkeit und Konzentrationsprobleme gehören zu den häufigsten.

Erschöpfung, Vergesslichkeit, Konzentrationsprobleme: Viele Menschen leiden an Covid-Spätfolgen und wissen es nicht einmal. | © AOK/Colourbox/hfr.

Anneke Quasdorf
03.04.2025 | 03.04.2025, 12:00

Gütersloh. Der Name des Kollegen, dem man schon 500 Mails geschrieben hat – plötzlich weg. Zwei von drei Kleinigkeiten, die man eben ohne Einkaufszettel im Supermarkt besorgen wollte – nicht mehr abrufbar. Konzentriertes Starren in den offenen Kühlschrank – doch was man herausholen wollte, fällt einem beim besten Willen nicht mehr ein. Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit sind seit der Pandemie stetige Begleiter vieler Menschen – obwohl sie keine schweren Verläufe hatten und sich vermeintlich gut erholt haben. Doch warum ist das so? Und vor allem: Hört das je wieder auf?

In Jens Grothues’ hausärztlicher Praxis in Beverungen im Kreis Höxter taucht das Thema nebenbei immer wieder auf. „Das sind viele Patienten, die eigentlich wegen etwas anderem kommen. Und in Gesprächen fällt dann oft der Satz: Seit Corona bin ich nicht mehr wie vorher. Ich hab Probleme.“ Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit sind zwei der häufigsten Veränderungen, auch den „Brainfog“, den Gehirnnebel, benennen viele Betroffene. Grothues hat festgestellt: „Häufig hatten diese Patienten während ihrer Corona-Infektionen mit starken Kopfschmerzen und Geruchs- und Geschmacksverlust zu kämpfen.“

Auch beim Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN) ist das Thema bekannt. „Man wusste um das Phänomen, dass virale Infekte Nervenzellen im Gehirn angreifen, auch schon vor Corona“, sagt die stellvertretende Vorsitzende, Christa Roth-Sackenheim. Dies gelte zum Beispiel für Influenza- oder Herpes-Viren. „Bei Covid trat das Phänomen dann gehäuft auf.“

Viele denken: Das ist Demenz im Frühstadium

Auch Roth-Sackenheim erlebt häufig, dass Patienten ihre Probleme als Befindlichkeit abtun, Sorge haben, dass sie sich alles nur einbilden – oder sogar mit der Panik kommen, dass sie Demenz oder Alzheimer entwickeln. „Viele können gar nicht den Finger darauf legen. Die sagen: Ich bin einfach anders. Ich kann weniger leisten, mir schlechter Namen oder Begriffe merken und brauche länger, um komplexe Probleme zu lösen.“ Die Medizinerin aber weiß: „All das ist keine Einbildung, wir können diese Symptome im Hirn sogar messen.“ Das Spektrum der Ausprägung reiche dabei von kaum nachweisbar bis schwerstkrank.

Patienten mit diesem Schweregrad behandelt man in Ostwestfalen-Lippe unter anderem in der Post-Covid-Ambulanz im LWL-Klinikum in Gütersloh. Claudia Wuttke kann nur vorsichtig schätzen, wie viele Menschen von Corona-Spätfolgen betroffen sind: sechs bis 15 Prozent. Das seien aber nur die Patienten, bei denen sich deutliche Symptome zeigten. „Viele sind betroffen und wissen es gar nicht. Die kämpfen jeden Tag darum, alles zu bewältigen, spüren eigentlich ganz genau, dass etwas nicht stimmt, werden aber nicht ernst genommen – sowohl in ihrem privaten Umfeld als auch von vielen Fachärzten.“

Rund 200 Covid-Folgeerscheinungen definiert die WHO. Claudia Wuttke ordnet grob in drei Kategorien: postvirale Ermüdbarkeit, die sogenannte Fatigue, Einschränkungen bei Atmung und Belastbarkeit und neurokognitive Störungen. „Ich habe hier Menschen sitzen, die hochverantwortungsvolle Berufe ausüben können, die aber sagen: Ich weiß seit der Corona-Infektion nicht mehr, wie meine Waschmaschine zu bedienen ist.“

Die eine bunte Pille für Post-Covid wird es nicht geben

Grund für die Ausfälle sind Schädigungen der Mikrostruktur der neuronalen Zellen im Hirn. Hier können sowohl die graue Masse, die Nervenzellkörper, als auch die weiße Masse, die Nervenzellfortsätze, also Leitungsbahnen, geschädigt werden. Wuttke: „Neue Studien zeigen, dass das Spike-Protein der Covid-Viren noch lange nach einer Infektion in den Hirnhäuten verbleiben, dauerhaft aktiviert sind oder plötzlich reaktiviert werden.“

Doch was können Betroffene tun, wie kann ihnen geholfen werden? Klar ist: Immer noch steht die Forschung bei Therapiemöglichkeiten für Post Covid „ganz am Anfang“, sagt BVDN-Vorsitzende Roth Sackenheim. Für Claudia Wuttke vom LWL-Klinikum ist aber jetzt schon klar: „Die eine bunte Pille für Post-Covid-Symptome wird es nicht geben.“ Aus diesem Grund konzentriert sie sich in der Behandlung darauf, die Symptome zu behandeln und zu beeinflussen. Für sie ist eine der wichtigsten Handlungen von Patienten, sich die Problematiken zunächst erst mal richtig einzugestehen – und dann ihr Tempo daran anzupassen.

„Pacing“ heißt das und ist keine Therapiemethode, sondern vielmehr ein Krankheitsmanagement. „Viele Patienten, die hierherkommen, haben lange funktioniert, weil sie selbst oder das Umfeld die Probleme nicht anerkennen wollten oder konnten.“ Durchhalteparolen wie „Reiß dich zusammen“ oder „Das bildest du dir nur ein“, seien keine Seltenheit. „Das hat zur Folge, dass die Betroffenen ständig mit Gewalt die von der Krankheit vorgegebenen Grenzen überschreiten – und es vielen damit sehr viel schlechter geht.“ Beim sogenannten „Pacing“ gehe es dagegen darum, genau das Gegenteil zu tun: die eigenen Grenzen erkennen und darunter zu bleiben, um stabil zu bleiben oder sogar Verbesserung herbeizuführen.

Viele Betroffene suchen zu spät nach Hilfe

Auch Ernährung spielt in den Augen Wuttkes eine große Rolle. „Es ist wahnsinnig wichtig, den Körper zu stärken. Und das geschieht auch über die Darm-Hirn-Achse.“ Grundlegend sei es daher, viel Gemüse, Vollkornprodukte und vor allem Omega-3-Fettsäuren in die Ernährung einzubauen. Bewegung und wenn möglich Sport vervollständigen das Paket. „Und auch Ergotherpie und kognitives Training können viel bewirken.“

Und nicht zuletzt sei es immens wichtig, die psychische Gesundheit im Auge zu behalten. „Post-Covid fordert alles von den Betroffenen. Viele von ihnen rutschen angesichts von Hilflosigkeit, Ohnmacht, eingeschränkter Lebensqualität und Stigmatisierung erst in Hoffnungslosigkeit, dann in Depression.“ Meist würde professionelle Hilfe viel zu spät in Anspruch genommen, oder die Betroffenen müssten zu lange auf einen Termin warten. „Dabei können zum Beispiel Selbsthilfegruppen auch schon eine große Entlastung sein.“ Letztlich könnten all diese Maßnahmen kleine Schritte zum Ziel sein. Denn den einen Wunsch äußern die meisten Patienten in Claudia Wuttkes Sprechstunden: „Ich will einfach, dass alles wieder ist, wie vorher.“