Selbstbestimmtes Sterben

Sterbehilfe: Bethel aus Bielefeld öffnet sich für assistierten Suizid

Jeder Mensch hat das Recht, mithilfe von Dritten Suizid zu begehen, sagt das Bundesverfassungsgericht. Doch ein Gesetz gibt es nicht. Bethel will den unterstützten Suizid nun zulassen.

Nach dem BVG-Urteil aus 2020 darf jeder Mensch in Deutschland sich bei einem Suizid von Experten helfen lassen - und Bethel akzeptiert das auch in seinen Räumlichkeiten. | © Gaetan Bally/dpa

18.06.2024 | 18.06.2024, 11:41

Bielefeld. Sich mithilfe eines anderen Menschen töten zu lassen? Vor allem christliche Einrichtungen ringen um dieses Thema, mal mehr, mal weniger. Bethel mehr. Galt in den 80ern noch, dass niemand in Bethel verhungern oder verdursten dürfe, ist das heute anders. Zwar gab es wohl keine Aufnahme-Verträge, die beim Wunsch eines Suizides ungültig wurden, doch sollen solche Verträge durchaus verbreitet sein. Der assistierte Suizid? Für Bethel ein Spagat, moralisch, ethisch – und bisher auch rechtlich.

Und die Rechtsprechung? Vor 40 Monaten entschied das Bundesverfassungsgericht (BVG), dass jeder Mensch das Recht habe, mithilfe von Dritten Suizid zu begehen. Und der Gesetzgeber? Der Bundestag schafft es seither nicht, eine Mehrheit zu finden, einen verbindlichen Rahmen zu schaffen. Bethel steckt mit Heimen, Hospizen und Krankenhäusern mitten drin in dieser Gemengelage – und wollte vor gut drei Jahren einen Rahmen schaffen fürs eigene Handeln.

Gab es früher die Haltung, Suizide zu verhindern, zu blockieren, möglichst in Bethel unmöglich zu machen, so ist das heute anders. Annette Kurschus, neue Chefin von Bethels Ethikkommission: „Unsere Melodie ist nicht, einen Suizid so lange wie möglich zu verhindern.“ Sondern Menschen mit suizidalen Gedanken und Plänen zu begleiten, immer mit der Haltung, Gründe dafür zu finden, am Leben festzuhalten. Bethel, das stellt Vorständin Johanna Will-Armstrong klar, werde in keiner Form bei der Hilfe zur Selbsttötung zum Akteur, brauche aber Klarheit über den rechtlichen Rahmen, in dem sich der größte diakonische Träger Europas mit seinen 23.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewegt.

Medizin-Ethiker: Bethel hat geschulte Mitarbeiter

Deshalb beauftragten die von Bodelschwinghschen Stiftungen 2021 Professor Thomas Gutmann – Medizin-Ethiker und -Rechtswissenschaftler der Uni Münster – mit einem Gutachten. Der dachte zunächst an ein Gefälligkeitsgutachten, „schnell aber merkte ich, dass das nicht das Ziel war, und erlebte, wie weit Bethel in der Auseinandersetzung ist, wie ethisch differenziert und geschult die Mitarbeiter sind.“

Gutmann zur Lage: „Das BVG-Urteil hat die Rechte der Patienten und Bewohner sehr starkgemacht, dem gegenüber steht natürlich, dass eine kirchlich geprägte Organisation wie Bethel den Suizid im Herzen ablehnen muss – und ich war überrascht davon, dass sich Bethel aber nicht hart gemacht hat und sich nicht auf die Position begeben hat, dass die Menschen halt klagen sollten, sondern bereit war und ist, sich zu bewegen.“ Nun liegt sein Gutachten vor.

Professor Thomas Gutmann hat gut drei Jahre am Gutachten für Bethel gearbeitet - und war sehr überrascht über die Positionen und Haltungen, die er in Bethel vorfand. - © Andreas Zobe
Professor Thomas Gutmann hat gut drei Jahre am Gutachten für Bethel gearbeitet - und war sehr überrascht über die Positionen und Haltungen, die er in Bethel vorfand. (© Andreas Zobe)

Fakt sei, dass es in Bethel künftig möglich sein muss, sich für einen Suizid externe Hilfe kommen zu lassen und den Suizid in Räumen Bethels zu begehen. Theoretisch war das seit dem BVG-Urteil auch bisher schon möglich, nun aber bestehe Rechtssicherheit. Denn: Patientenrechte beinhalten eben auch das Recht auf Selbstbestimmtheit in ihrem Wohnbereich. Bethel erkennt an, dass die Hilfestellung zum Suizid nicht faktisch unmöglich gemacht werden darf.

Patienten mit Suizid-Wunsch werden aufgenommen – mit Ausnahmen

Patienten mit diesem Wunsch dürfen auch nicht „rausgeworfen werden“, wie es Gutmann klipp und klar formuliert. Und auch wenn Bethel den Wunsch nach einem Suizid bei Aufnahmen erahnt, darf nicht die Aufnahme verweigert werden. Anders sieht es aus, wenn eindeutig der Suizid als Hauptgrund für eine Aufnahme – zum Beispiel in ein Hospiz oder ein Heim – formuliert wird.

Viele Grenzbereiche gibt es, wenn Patienten nicht mehr trinken möchten, wenn starke Schmerzmittel das Leben verkürzen werden, wenn im Hospiz palliativ sediert wird. Die eine Wahrheit gibt es hier selten, Bethel aber stärkt sein Personal, indem es eine enge ethische Begleitung (Ethikkonsil) bietet. Gutmann: „Ich hatte viele Gespräche mit Mitarbeitern – und die sagten, dass sie im Umgang mit den Patienten einen Weg finden würden, dass sie aber eindeutig wissen müssten, wer in Bethel ihr Ansprechpartner sei.“

Gutmann: „Es gibt in der Belegschaft eine extrem hohe Bereitschaft, sich auf die hochkomplexen Fragen und Haltungen zum Thema einzulassen; Bethel ist viel besser in der Lage, mit diesen Fragen umzugehen als ein Kreiskrankenhaus oder eine Uni-Klinik.“ Weil eben der Umgang mit ethisch-moralischen Fragen auf Basis des Christentums tief verankert ist.

Wichtiger: Woher kommt der Todeswunsch?

Beim Thema assistierter Suizid sei jedoch der Blick auf jene Menschen, „die noch nicht im Sterbeprozess sind“, viel wichtiger. Hier gelte es, im Sinne des Lebens, herauszufinden, ob es äußere Einflüsse gibt, die den Todeswunsch forcierten – oder ob es eine freie, selbstbestimmte Meinungsfindung gebe. „Es geht am Ende um Fragen von ’Verabreiche ich Gift?’ bis hin zu ’Unterstütze ich beim Zu-Tode-Fasten’?“

Da will Bethel präzise hinsehen und intensiv helfen, um das Leben zu erhalten; aber nicht, um den Suizid unter allen Umständen zu verhindern. Gutmann: „Schutzfunktion ja, aber ohne Hindernisse aufzubauen.“ Also: „Nicht aktiv durchführen, aber auch nicht aktiv verhindern.“

Bethel setzt damit seine Standards – und wartet parallel weiter auf ein Sterbehilfegesetz. Das könne ein Schritt zur Normalisierung sein. Übrigens: In den 40 Monaten seit dem BVG-Urteil gab es laut Will-Armstrong „meines Wissens nach keinen begleiteten Suizid in Bethel“. Also ein rein theoretisches Ethik-Jura-Thema? Nein, Länder wie Kanada, Belgien und die Niederlande zeigten, dass ein offensiver Umgang die Zahlen deutlich ansteigen lasse. Will-Armstrong: „Die Sorge, dass ein Suizid in der Gesellschaft zum Normalfall wird, ist groß.“ Gutmann: „Respekt vor jenen, die es wollen – aber nicht andere da reintreiben.“

INFORMATION


Sollten Sie sich von besonderen Lebensumständen betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie 24 Stunden am Tag Hilfe und Beratung.

In Bielefeld erreichen Sie außerdem den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Bielefeld werktags von 8 bis 15 Uhr unter 0521/51-2581 sowie den Krisendienst Bielefeld vom PariSozial unter 0521/32 99 285 (werktags von 18 bis 7.30 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen rund um die Uhr).