Steinhagen während der NS-Zeit: Gesellschaft im Gleichschritt

Die Jugend eingefangen: Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel marschieren 1939 durch Brockhagen. | © Heimatverein Brockhagen

Frank Jasper
30.10.2018 | 31.10.2018, 07:01

Steinhagen. Hakenkreuzfahnen wehen 1932 am Steinhagener Kirchplatz. Die Nationalisten werben um Stimmen. Das Foto dürfte im Vorfeld der letzten freien Wahlen entstanden sein. Es zeigt ein Steinhagen, vor dem einige im Ort gerne die Augen verschließen würden. Auf Seite 31 des Buches von Dr. Jürgen Büschenfeld springt es den Leser halbseitig groß an.

Stellen das Buch vor: Bürgermeister Klaus Besser (von links), Schulamtsleiterin Gabi Schneegaß, Gemeindearchivarin Petra Holländer und der Autor Dr. Jürgen Büschenfeld. - © Frank Jasper
Stellen das Buch vor: Bürgermeister Klaus Besser (von links), Schulamtsleiterin Gabi Schneegaß, Gemeindearchivarin Petra Holländer und der Autor Dr. Jürgen Büschenfeld. (© Frank Jasper)

Als sich im April 2014 die Steinhagener Politik mehrheitlich für eine detaillierte Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus’ in Steinhagen ausspricht, sperrt sich die CDU gegen das Vorhaben. Die Partei befürchtet, dass im Ort alte Wunden aufgerissen werden und womöglich Zwietracht zwischen nachfolgenden Opfer- und Täter-Generationen gesät werden könnte. Gerade die ältere Generation könne sich mit der Lektüre schwertun, stellt der Historiker und Buchautor Dr. Jürgen Büschenfeld nickend fest, als er im Pressegespräch mit dieser Befürchtung konfrontiert wird.

Schreckliche Tat: Das Wohnhaus der jüdischen Familie Hurwitz fiel 1938 einer Brandstiftung zum Opfer. - © Stadtarchiv Halle
Schreckliche Tat: Das Wohnhaus der jüdischen Familie Hurwitz fiel 1938 einer Brandstiftung zum Opfer. (© Stadtarchiv Halle)

Seine Aufgabe sei es jedoch, aus dem doch umfangreich vorhandenen Quellenmaterial im Kleinen das Große zu suchen. Dass ein Historiker dabei keine Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten nehmen kann, versteht sich von selbst. Es ist so selbstverständlich, dass Büschenfeld es gar nicht erst anspricht. Also ergreift der Bürgermeister das Wort. Klaus Besser betont: „Es geht nicht darum, jemanden vorzuführen und schon gar nicht darum, die Nachfolgegenerationen in den Blick zu nehmen, sondern darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten."

"Eine dubiose Geschichte", sagt der Historiker

Die »Alte Garde« kommt: Am Ortseingang von Brockhagen grüßt 1939 die Hitlerjugend. - © Heimatverein Brockhagen
Die »Alte Garde« kommt: Am Ortseingang von Brockhagen grüßt 1939 die Hitlerjugend. (© Heimatverein Brockhagen)

In der Dokumentation, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, die aber dennoch gut zu lesen ist, spart der Autor auch die düstersten Kapitel Steinhagens und seiner Ortsteile Amshausen und Brockhagen nicht aus. Ausführlich erzählt er die Geschichte der einzigen jüdischen Familie Brockhagens. Bereits früh musste die Familie Hurwitz unter den Repressalien der Nationalsozialisten leiden. „Das hatte ich in dieser Deutlichkeit nicht erwartet", sagt Büschenfeld.

Das Wohnhaus der Familie fiel in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 einer Brandstiftung zum Opfer. Die Täter, NSDAP-Mitglieder, waren langjährige Nachbarn. Der Leser erfährt auch von der unrühmlichen juristischen Aufarbeitung dieses Vorgangs, der mit dem Freispruch des Angeklagten aus Mangel an Beweisen endet. Eine „dubiose Geschichte", meint der Historiker.

Auch die Rolle der Brennerei Schlichte spart die Dokumentation nicht aus. „Die Eigentümer haben sich damals um ein eigenes Strafgefangenenlager bemüht, um ihre wirtschaftliche Lage zu optimieren", berichtet Dr. Jürgen Büschenfeld. Daraus wurde jedoch nichts. Der Landrat in Halle lehnte das Lager ab. Zwar gehörten Werner Schlichte und sein Bruder Herbert nicht der NSDAP an, auf Betriebsversammlungen hätten beide aber sehr wohl einen „zeittypischen NS-Jargon angeschlagen".

Steinhagener Kirchplatz 1932: Die Nationalsozialisten werben mit Hakenkreuzfahnen im Vorfeld der Wahlen um Stimmen. Ihre Ideologie hat längst an Fahrt aufgenommen. - © Sammlung Kai-Uwe von Hollen
Steinhagener Kirchplatz 1932: Die Nationalsozialisten werben mit Hakenkreuzfahnen im Vorfeld der Wahlen um Stimmen. Ihre Ideologie hat längst an Fahrt aufgenommen. (© Sammlung Kai-Uwe von Hollen)

Deutlich wird bei der Lektüre, dass die Ortsteile ganz unterschiedliche Entwicklungsstufen durchmachten. Während Brockhagen relativ schnell, nämlich bereits zu den so genannten Märzwahlen 1933, zur NSDAP-Hochburg wurde, widersetzte sich Amshausen länger der NS-Ideologie. Aus Amshausen stammt dann auch die Anekdote, wonach SPD-Anhänger ihre Parteifahne in ein Sofakissen einnähten, um sie während einer Hausdurchsuchung durch die NSDAP zu verstecken. „Gut möglich, dass der ungebetene Besuch sogar auf dem Kissen mit der Fahne saß", so Büschenfeld. Dies sei die einzige Stelle in dem Buch, an der dem Leser zum Schmunzeln sei.

Kommentar: Erinnern statt verdrängen

Lange hat es gebraucht, jetzt ist die Dokumentation über die NS-Zeit in Steinhagen fertiggestellt. Gut so. Die Gemeinde stellt sich ihrer Vergangenheit. Dass es sich dabei um keine Selbstverständlichkeit handelt, zeigt die Vorgeschichte zum Buch. Auch in Steinhagen gibt es Menschen, die sich mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte nicht (mehr) befassen wollen.

Die Argumente, die in solchen Schlussstrich-Debatten angeführt werden, sind menschlich verständlich. Die Auseinandersetzung mit der Opfer- und Täterschaft der eigenen Vorfahren schmerzt, und der von manchen politischen Lagern betriebene deutsche Schuldkult nervt.

Doch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist eine gesellschaftliche moralische Verpflichtung. Gerade eine sachliche, wissenschaftlich fundierte und vor allem sehr lokale Dokumentation, wie sie nun vorliegt, dürfte dazu geeignet sein, nachfolgende Generationen angemessen aufzuklären. Es geht um Erinnerung, damit sich Vergleichbares wie in den Jahren von 1933 bis 1945 nicht wiederholt. Nicht in Deutschland, nicht in Steinhagen. Nirgendwo.

INFORMATION


208 Seiten Geschichte

Das Buch »Steinhagen im Nationalsozialismus – Ländliche Gesellschaft im Gleichschritt« ist im Verlag für Regionalgeschichte erschienen und ab sofort für 19 Euro im Rathaus und im Buchhandel erhältlich.

Auf 208 Seiten befasst sich der Autor Dr. Jürgen Büschenfeld mit verschiedenen Phasen des Nationalsozialismus’. Angefangen in der Spätphase der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit.

76 historische Fotos und Karten sind in dem Buch enthalten, darunter bisher noch nicht veröffentlichtes Bildmaterial.

Die Erstauflage beträgt tausend Exemplare.

Der Autor Dr. Jürgen Büschenfeld ist Leiter des Arbeitsbereichs »Geschichte als Beruf« an der Universität Bielefeld. Sein Schwerpunkt ist Wissenschafts-, Umwelt-, Stadt- und Unternehmensgeschichte.

Für das Buch recherchierte Büschenfeld in etlichen Archiven und erhielt Informationen von den Heimatvereinen und wenigen Zeitzeugen.