„Wenn Sie mit einem kurzen Barockbogen über die Saiten streichen, dann sind Sie bei einer Kantilene schneller fertig. Das heißt doch, man muss vielleicht anders spielen." – Martin Rieker, Kirchenmusikdirektor, Kurator und Leiter der Haller Bach-Tage, veranschaulichte mit Esprit und praxisorientierten Hörbeispielen die Besonderheiten einer historischen Aufführung.

Explizit rekonstruierte er am Freitagabend die Stimmung der Instrumente und postulierte, dass zu Johann Sebastian Bachs Zeiten (1685–1750) der Kammerton a mit 415 Hertz einen halben Ton tiefer lag als heute.
„Bei den Bach-Tagen spielen wir selbstverständlich in alter Stimmung, das heißt, der Kammerton ist nicht a, sondern gis", präzisierte Rieker und ergänzte: „Eigentlich müsste auf unseren Programmheften noch stehen, dass das Ensemble »Aperto« auf historischen Instrumenten in historischer Stimmung spielt."
Damit Bachs Musik so lebendig und so authentisch wie möglich erklang, webten Aperto-Konzertmeisterin Elfriede Stahmer (I. Violine), Irina Kisselova (II. Violine), Klaus Bona (Viola), Martin Fritz (Cello), Georg Schuppe (Violone), Klaus Eichhorn (Orgelpositiv), Eva Endel (I. Oboe) und Georg Fritz (II. Oboe) einen vollendeten Klangteppich nach historischem Muster, der dem 35-köpfigen Chorensemble und den drei Solisten in den Fächern Sopran, Alt und Bariton eine optimale Basis schaffte.

Die Kantate »Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget (BWV 64)«, die Bach für den 27. Dezember 1773 in Leipzig komponiert hat, eröffnete in der St. Johanniskirche die brillante Anthologie, deren Aufführung am Freitagabend mit vier kompletten Werken große Klasse zeigte und Bestnoten verdiente.
Brillant auch die Sopranistin Tanya Aspelmeier, die bei der Arie »Was die Welt in sich hält« leuchtende Höhen erreichte. Die Dozentin an der Akademie für Alte Musik in Bremen überzeugte durch ihre kräftige, kristallklare Ausdeutung, die sie später in der Solokantate für Sopran »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke (BWV 84)« mit liebreizender Stimme pointierte.
In der darauf folgenden Arie »Von der Welt verlang ich nichts, wenn ich bloß den Himmel erbe« für Alt und Oboe d’amore, wurde der pure Hörgenuss weiter veredelt. Die Frankfurter Altistin Anne Bierwirth und die Oboistin Eva Endel aus Hannover präsentierten einen wunderbaren Wechselgesang zwischen Stimme und dem in gleicher Tonhöhe operierenden Soloinstrument, der von lyrisch melodiöser Anmut zeugte.
Mit der hervorragenden Interpretation der fünfstimmigen Motette »Jesu, meine Freude (BWV 227)«, die zwischen 1723 und 1735 entstand, kombinierte das professionell trainierte Chorensemble der Johanniskantorei die hohe Kunst der Polyphonie mit besonders ausgeprägter Dynamik. Bariton Markus Rhein-Schomburg aus Oelde vermittelte mit seinem basalen Gesang und dem Rezitativ in »Alles nur nach Gottes Willen (BWV 72)« rund 400 Konzertbesuchern die räumliche Tiefe im Haller Kirchenschiff.
Dem begeistert applaudierenden Publikum gefiel die kooperative Arbeit mit der historischen Literatur Bachs auf dem außergewöhnlichen Klassik-Festival der Region so sehr, dass es die Akteure nur nach einer Zugabe entließ. Mit der sechsten Strophe aus der Motette »Jesu, meine Freude« verabschiedeten sich die Künstler und vermittelten noch einmal den Puls der damaligen Zeit: »Wacht, ihr Trauergeister«.