Gegen das namenlose Vergessen

Holocaust-Gedenktag in Halle

Leuchtende Erinnerung: Am Mahnmal auf dem »Von-Kluck-Platz« stellten die Schülerinnen und Schüler die Kerzen auf, die sie zuvor in der St. Johanniskirche für die Opfer des Nationalsozialismus entzündet hatten. | © Foto: Rolf Uhlemeier

28.01.2016 | 28.01.2016, 06:00
Andächtig: Für jedes Opfer, dessen Namen vorgelesen wurde, entzündeten die Schülerinnen und Schüler eine Kerze. - © Foto: Rolf Uhlemeier
Andächtig: Für jedes Opfer, dessen Namen vorgelesen wurde, entzündeten die Schülerinnen und Schüler eine Kerze. (© Foto: Rolf Uhlemeier)

Plötzlich wird es ganz ruhig in der St. Johanniskirche. Schülerinnen und Schüler aus Halle lesen die Namen der Opfer des Nationalsozialismus vor – zum Teil mit wenigen Daten und Erklärungen, aber auch mit kleinen Geschichten, die sich tief in die Herzen der Zuhörer graben. Da sind der erst 19-jährige polnische Zwangsarbeiter Zdzislaw und die junge Wilhelmine in Ostbarthausen, deren Liebe so unfassbar grausam bestraft wird. Zdzislaw wird hingerichtet und Wilhelmine verbringt bis zu ihrer Befreiung dreieinhalb Jahre im Konzentrationslager. Oder der kleine Peter Korschak, an den Halles Hauptschule mit ihrem Namen erinnert, und der im Waldlager Künsebeck seinen ersten Geburtstag nicht erlebte.

Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus lebt, wenn sie einen Namen trägt und den haben ihr die Jugendlichen der Haller Hauptschule, der Realschule, der Gesamtschule und des Gymnasiums gestern geben: Juden, aus religiösen und politischen Gründen verfolgte Menschen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, deren Namen erstmals vorgelesen wurden, sowie die Namen der über 40 Kinder, die die schrecklichen Bedingungen im Künsebecker Waldlager nicht überlebt haben.

Info

Hinrichtungen im Waldlager

Ein bislang unveröffentlichter Aufsatz über die Hinrichtung von sieben russischen Staatsbürgern im Waldlager Künsebeck wird heute vom Team des Haller Internet-Museums »ZeitRäume« online gestellt und im Schaukasten am Museumsbüro, Bahnhofstraße 17, gezeigt. Wolfgang Kosubeck hat sich mit dem besonders unbarmherzigen Fall beschäftigt, der von einem »Wachtmeister der Gendarmerie der Reserve« im Lager dokumentiert wurde. Die sieben Männer wurden am 26. März in Künsebeck hingerichtet und in einem Massengrab auf dem Friedhof II an der Alleestraße begraben. Nur eine Woche später rollten amerikanische Panzer durch die Lindenstadt und die 1300 Gefangenen im Waldlager wurden befreit. Trotz weiterer Recherchen von Wolfgang Kosubeck bleibt unklar, wer die sieben Männer waren und warum sie hingerichtet wurden. Mehr unter www.haller-zeitraeume.de

„Eigentlich passt das Wetter zur Stimmung des Gedenkens", sagte Pastor Tim Henselmeyer, als sich alle Schüler, deren Lehrer sowie die übrigen Teilnehmer der Gedenkveranstaltung vor dem anhaltenden Regen unter das schützende Dach der St. Johanniskirche zurückgezogen hatten. Zusammen mit den Schülerinnen Delia Hagemann und Yessica Zerning begrüßte er die weit über 200 Anwesenden.

 „Es waren Menschen wie Du und ich"

„Wären sie heute unsere Facebook-Freunde und hätten wir sie in unseren Whats-App-Kontakten?", begann Henselmeyer seine Ansprache mit einer rhetorischen Frage, als die Namen der Haller Opfer verklungen waren. „Es waren Menschen wie Du und ich – Menschen mit Sehnsüchten und Träumen, mit Sorgen und Nöten", ergänzte der Pastor und spannte den Bogen zu den aktuellen Ereignissen: „Wie schnell vergessen sich Menschen, machen Minderheiten für Probleme dieser Zeit verantwortlich. Es wird pauschalisiert und schnell sind es die Muslime, die für den Terror verantwortlich sind. Schnell sind es die Flüchtlinge, die verantwortlich für für Übergriffe auf Frauen sind und schnell sind es die Ausländer, die verantwortlich für wirtschaftliche Not sind." Zum Abschluss mahnte Henselmeyer die Anwesenden noch einmal, sich daran zu erinnern, „nicht zu vergessen, wohin so eine Fremdenfeindlichkeit und so eine Schwarz-Weiß-Malerei führen kann".

Einstimmung: Pastor Tim Henselmeyer begrüßte die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung mit Yessica Zerning und Delia Hagemann. - © Foto: Rolf Uhlemeier
Einstimmung: Pastor Tim Henselmeyer begrüßte die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung mit Yessica Zerning und Delia Hagemann. (© Foto: Rolf Uhlemeier)

Als leuchtendes Zeichen gegen das Vergessen stellten die Schülerinnen und Schüler die Kerzen, die sie für die Haller Opfer des Nationalsozialismus entzündet hatten, am Mahnmal auf dem Von-Kluck-Platz auf, bevor sie sich auf den Rückweg zu ihren Schulen machten. Nicht laut und fröhlich, sondern leise, in Gesprächen und Gedanken vertieft. Gedanken an die vielen Namen, die sie in der St. Johanniskirche gehört hatten – die Namen der Opfer.