Vom Alltag der Abschreckung

HK-Serie zum Kalten Krieg

Überwiegend schöne Erinnerungen: Die hat Leen Snel an seine Militärzeit. Als die Raketen 1983 abgebaut wurden, endete sein Kontrakt als Zeitsoldat und er entschloss sich, in Borgholzhausen zu bleiben. Bereut hat er diesen Entschluss bis heute nicht. | © Foto: Andreas Großpietsch

Andreas Großpietsch
02.12.2015 | 02.12.2015, 06:03

»Nec plus ultra – bis hierher und nicht weiter« lautet das unmissverständliche Motto der 120. Squadron der niederländischen Streitkräfte, die in Borgholzhausen stationiert war. Das Emblem der Einheit zeigt einen schnaubenden Stier und eine Krone – schließlich war die 120. Teil der »Koninklijke Luchtmacht (KLu)«, der Königlichen Luftwaffe der niederländischen Streitkräfte.

Genauso martialisch und für die Ewigkeit gebaut wirkten die Einrichtungen auf Sundernberg und Hollandskopf. Doch in Wirklichkeit dauerte der ganze Spuk nur rund 20 Jahre – dann waren die Niederländer wieder verschwunden. Jedenfalls die meisten von ihnen. Leen Snel, der heute in Bödinghausen lebt, diente von 1977 bis bis zum Abzug 1983 auf der Station.

„Das war schon ein sehr emotionaler Moment“, erinnert er sich noch genau an den Tag, als den Soldaten und Angehörigen in der Messe ihrer kleinen »Holländerstadt« das Aus für den Standort Borgholzhausen bekanntgegeben wurde. „Viele Menschen waren sehr enttäuscht. Sie wären gern dageblieben, vor allem die Familien“, sagt Snel.

Nicht wenige Mitglieder der kleinenholländischen Gemeinde entschieden sich so wie er zum Bleiben. Doch die Frage nach dem Land, in dem man leben will, betraf nur rund die Hälfte der Stationsangehörigen. Denn die übrigen Soldaten leistete in Borgholzhausen nur ihren Wehrdienst ab. „Die waren vor allem für Bewachungsaufgaben zuständig“ erinnert sich Leen Snel. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag, saßen sie in den Wachhäuschen an den Eingängen zur Kaserne, zur Abschuss- und zur Radarstation, standen auf den Wachtürmen oder marschierten entlang der nachts beleuchteten Zäune.

Snel dagegen diente als Zeitsoldat, erreichte den Rang eines Corporals (Unteroffizier) und war Computer-Operator auf dem Hollandskopf. „Da oben gab es nur ganz wenige feste Gebäude. Die ganze Einheit war auf Mobilität ausgerichtet“, widerspricht Snel dem weit verbreiteten Vorurteil, dass gewaltige Bauten für das Militär errichtet wurden. „Selbst die Radarantennen standen auf Lafetten und hätten im Ernstfall rasch weggefahren werden können“, erklärt er.

„Es war heiß, laut und stickig“

Die eigentlich Steueranlage der ganzen Raketeneinheit war ein gesichtsloser Betonwürfel, an den drei geschlossene Container rückwärts angedockt waren. In diesen Aufbauten saßen die holländischen Soldaten mit ihren Geräten. „Es war heiß, laut und stickig“, schildert Leen Snel die Bedingungen, unter denen er und seine Kameraden ihren Dienst absolvieren mussten.

»Solide Militär-Computertechnik« lautet eine mögliche Beschreibung der damaligen Ausrüstung. Doch die Einschätzung, dass die Röhrengeräte schon deutlich vor dem Jahr 1980 hoffnungslos veraltet waren, ist sicher ebenso richtig. Jedes heute handelsübliche Smartphone hat mehr Rechenkapazität als die gesamt Raketensteuerung auf dem Hollandskopf aufwies.

„Doch im Ernstfall hätten wir getroffen“, ist sich Leen Snel trotzdem sicher, dass die Nike–Hercules-Raketen gefährliche Waffen waren. Die Mannschaften waren gut ausgebildet und ihre Leistungsfähigkeit wurde ständig überprüft. Einmal im Jahr ging es für die Soldaten nach Kreta zur sogenannten NAMFI (NATO Missile Firing Installation). Der Tage auf dem Raketenschießplatz waren in vielfacher Hinsicht ein Höhepunkt im doch eher eintönigen Tagesgeschäft der Zeitsoldaten.

Auf Kreta wurde nicht nur, ähnlich wie in den heimischen Raketenstationen, mit Simulationen geübt, dort erlebten die Soldaten auch etwas, was in Borgholzhausen zum Glück nie stattgefunden hat: den echten Abschuss einer Nike-Rakete. Die NATO beansprucht zusätzlich zum NAMFI-Stützpunkt auf Kreta auch ein Seegebiet und den entsprechenden Luftraum, um scharfe Schüsse mit Raketen üben zu können – übrigens bis zum heutigen Tag.

Training mit Apparat, der Radaranlagen stört

Unter erschwerten Bedingungen wurde auch oft in Borgholzhausen geübt. Zum Beispiel, wenn das T 1-Gerät in der Nähe war. Die Abkürzung steht für Training One und beschreibt einen Apparat, der Radaranlagen stört. Die Soldaten mussten dann rasch auf andere Frequenzen wechseln und die verschiedenen Anzeigen so in Übereinstimmung bringen, dass im Ernstfall ein Treffer gelungen wäre.

Trotz aller Bemühungen der Vorgesetzten gab es viel Routine, oder vielleicht besser gesagt Langeweile, unter der die Soldaten zu leiden hatten. Zweifel am Sinn ihrer Mission hatten sie allerdings nicht, meint Leen Snel: „Die Strategie der Abschreckung in Ost und West war der Grund dafür, dass es keinen Dritten Weltkrieg gegeben hat.“ Da ist er sicher, fügt aber einschränkend hinzu: „Das ist meine ganz persönliche Meinung.“

Für ihn selbst gibt es einen ganz privaten Aspekt, warum sich das Abenteuer »NATO-Soldat in Deutschland« für ihn gelohnt hat. Hier lernte er seine Frau Ute kennen und mit ihr und einer ganzen Reihe von Haustieren lebt er heute gesund und munter in Borgholzhausen. Für nicht wenige seiner Kameraden ging die Sache allerdings nicht so gut aus. Gerade aus den Mannschaften der Radaranlagen erkrankten Jahre später viele Soldaten an Krebs.

„Wir wurden zwar vor der Strahlung gewarnt, hatten aber keine Ahnung, wie gefährlich sie wirklich war. Wenn man eine der damals schicken neuen Digitaluhren trug und damit vor eine Radarantenne geriet, war das Ding kaputt“, sagt er – und zuckt mit den Schultern. „Damals haben wir uns darüber keine Gedanken gemacht. Wir waren eben alle sehr jung, als wir hier in Borgholzhausen unseren Dienst als Soldaten gemacht haben.“

Souvenir aus Griechenland: Nur auf dem NAMFI-Raketenschießplatz Kreta wurde mit den Nike-Hercules-Raketen scharf geschossen. - © Foto: Andreas Großpietsch
Souvenir aus Griechenland: Nur auf dem NAMFI-Raketenschießplatz Kreta wurde mit den Nike-Hercules-Raketen scharf geschossen. (© Foto: Andreas Großpietsch)