Gütersloh. Wenn sie Glück haben, können sie für ein paar Tage bei Bekannten oder Verwandten auf der Couch schlafen. Läuft es nicht so gut, müssen sie sich nachts wieder eine Parkbank suchen. Doch wenn man sie fragt, sagen viele Obdachlose, dass ihnen die Freiheit selbst in der kühleren Jahreszeit wichtiger ist als ein Bett in der Notunterkunft, wo man im Zweifelsfall noch beklaut wird. Wer Platte macht, lebt nicht am Rande der Gesellschaft, sondern außerhalb. Körper und Seele werden nicht selten mit Alkohol und Drogen betäubt – ein Teufelskreis, der in die Knochen geht.
Gemäß dem Motto „Nach der Suppe zum Doktor"
Umso wichtiger, aber auch umso schwieriger ist die medizinische Betreuung. In Gütersloh gibt es für Obdachlose seit 17 Jahren die „aufsuchende Gesundheitsfürsorge", die als Kooperation der Wohnungslosenhilfe mit der Diakonie startete. Seit 2014 leitet Inge Rehbein das Projekt in den Räumen der Suppenküche. Gemäß dem Motto „Nach der Suppe zum Doktor" empfängt der Internist Friedemann Bohlen dort einmal im Monat seine erwachsenen Patienten, horcht sie ab, hört ihnen zu und verpasst ihnen auch mal eine Spritze – denn zurzeit haben die Besucher die Möglichkeit zur Grippeschutzimpfung, die gerne angenommen wird
„Erkältungen und Bronchitis gehören zu den häufigsten akuten Erkrankungen, mit denen die Leute kommen", sagt Bohlen, der in dem kleinen Behandlungsraum auch alle empfohlenen gesetzlichen Schutzimpfungen durchführt. Auf Platz zwei und drei folgen Wunden und Verletzungen, „aber viele Besucher haben auch psychische Erkrankungen. Besonders die körperlichen Auswirkungen der Suchterkrankungen sind eigentlich immer ein Thema." Bei psychischen Erkrankungen ist Bohlen jedoch raus. „Meine Grenze ist die Behandlung mit Psychopharmaka oder Schlafmitteln. Als Internist ist das nicht mein Bereich."
Den Flur runter gibt es auch eine Dusche
Weil Menschen ohne festen Wohnsitz fast überall im öffentlichen Raum die Erfahrung machen, dass sie nicht willkommen sind, genießen sie die menschliche Wärme in der Suppenküche umso mehr. Hier bleibt niemand lange allein am Tisch sitzen, denn es gehört zum Konzept dieser Einrichtung, den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen und ihm nicht nur eine warme Mahlzeit hinzustellen.
Den Flur runter gibt es auch eine Dusche, für die meisten Obdachlosen ist das die einzige Möglichkeit zur Körperpflege. Neben der fehlenden Krankenkassenkarte ist das ein weiterer Grund, warum man sie kaum im Wartezimmer eines Hausarztes antrifft. „Die Zielgruppe dieses Projektes sind Menschen, die keinen Anschluss an das Regelversorgungssystem der niedergelassenen Ärzte und Krankenhäuser haben. Wenn die Betroffenen mitmachen, kann es aber auch gelingen, dass jemand in eine Krankenkasse aufgenommen wird und einen Hausarzt findet", erklärt Inge Rehbein, die auch persönlich einspringt, etwa wenn eine Wunde nach der Arztbehandlung regelmäßig verbunden werden muss. „Das geht in unseren Räumen natürlich besser als auf der Straße."
Dass man vielen Besuchern seiner Sprechstunde die Not nicht nur ansehen, sondern sie auch riechen kann, ist für Friedemann Bohlen kein Problem.
„Ich bin robust. Das ist schließlich mein Beruf"
„Ich bin robust. Das ist schließlich mein Beruf und den mache ich gerne. Ich werde täglich mit der Körperlichkeit konfrontiert und habe eine höhere Toleranz als andere Leute – ich kann einfach mehr ab", sagt der 57-jährige Gütersloher, der als Internist im Elisabeth Hospital tätig war, bis er 1999 in die Arbeitsmedizin wechselte und heute als Betriebsarzt in Paderborn arbeitet. „Dadurch ist es mir möglich, dass ich an dieser Stelle etwas machen kann. Ich bekomme hier viel Anerkennung und persönliche Wertschätzung. Man bekommt viel zurück."
Während es Friedemann Bohlen eher mit alteingesessenen Güterslohern zu tun hat, kümmern sich zwei weitere Internisten im Team um die kleinen Patienten aus der Kinderküche „Die Insel" und bieten dort auch Familiensprechstunden an. Medikamente und Impfstoffe werden von der Apotheke des städtischen Klinikums zur Verfügung gestellt. In einem Punkt könnte die Versorgung laut Bohlen allerdings noch verbessern: „Es gab auch mal einen Zahnarzt im Team und es wäre schön, wenn sich wieder jemand finden würde."