Emotionales Essen"Viele Menschen spüren nicht mehr, wann sie gesund satt sind"

Übergewicht entwickelt sich in Deutschland zum Massenphänomen. Das hat viele Gründe. Emotionales Essen ist wohl einer davon, sagt eine Ernährungstherapeutin.

Angela Wiese

Lecker, aber zu oft machen sie dick: Pommes. Zu ihnen und anderen fetthaltigen Lebensmitteln greifen viele auch aus Stress und Frust. - © picture alliance / ROBIN UTRECHT
Lecker, aber zu oft machen sie dick: Pommes. Zu ihnen und anderen fetthaltigen Lebensmitteln greifen viele auch aus Stress und Frust. © picture alliance / ROBIN UTRECHT

"Epidemische Ausmaße" hätten Übergewicht und Fettleibigkeit in der gesamten WHO-Region Europa erreicht, die Tendenz sei steigend, mahnt die Weltgesundheitsorganisation. Gut zwei Drittel der Männer, die Hälfte der Frauen und fast jedes sechste Kind gelten in Deutschland als übergewichtig, sagt Bundesernährungsminister Cem Özdemir. Die Ernährungstherapeutin Kathrin Vergin befasst sich seit zehn Jahren mit dem Phänomen des emotionalen Essens und hat viele Betroffene beraten. Im Gespräch erklärt sie, was emotionales Essen ist, wieso es mit mangelnder Disziplin nichts zu tun hat und Diäten dagegen kaum wirken können.

Ist emotionales Essen ein Grund für das grassierende Übergewicht?

Kathrin Vergin: Der Begriff Emotional Eating ist nicht sehr bekannt. Das will ich ändern, weil es sehr viele Betroffene gibt. Ich glaube, dass es auch einen Zusammenhang zwischen emotionalem Essen und der Zunahme von Übergewicht gibt. Keiner sagt in einem Essanfall: Mensch, ich mache mir jetzt mal eine Gemüsepfanne, sondern greift zum Schokoriegel oder den Chips. Das führt auf Dauer zu Übergewicht. Bei den Patientinnen, die in meine Beratung kommen, kann es bei fünf Kilogramm Übergewicht losgehen, es können aber auch über 35 Kilogramm sein. Es ist ein Massenphänomen, dass wir gar nicht mehr richtig wissen: Wie gehen wir mit Stress um? Welche Bedürfnisse habe ich, wie kann ich sie erfüllen? Viele Menschen greifen als Antwort zum Essen, weil es immer verfügbar ist.

Was ist emotionales Essen?

Ernährungstherapeutin Kathrin Vergin. - © Markus Hertrich
Ernährungstherapeutin Kathrin Vergin. (© Markus Hertrich)

Jeder isst auch emotional. Das ist nicht per se schlecht. Es wird aber zum Problem, wenn ich es nicht mehr anders regulieren kann. Und das ist bei vielen Menschen der Fall. Wenn wir nur aus Hunger essen würden, gäbe es nicht so viel Übergewicht. Emotionales Essen findet immer dann statt, wenn wir physisch gesehen keinen Hunger haben, aber aus Gründen wie Stress oder Trauer trotzdem essen. Oft haben wir bestimmte Emotionen an eine Gewohnheit geknüpft. Zum Beispiel: Wenn es mir schlecht geht, esse ich Schokolade. Je öfter ich mich so verhalte, desto automatischer passiert das. Emotionales Essen hat nichts mit mangelnder Disziplin zu tun. Es resultiert aus einem Grundbedürfnis, das nicht befriedigt ist.

Sie sagen, wer emotional isst, erkennt echten Hunger nicht mehr. Wie erkennt man den denn?

Normalen Hunger kann ich in die Länge ziehen, kann also noch etwas abwarten, bis ich etwas esse und ich merke die körperlichen Symptome. Bei Appetit, der rein psychisch ist, ist das eher ein Impuls und dann muss ich ein bestimmtes Lebensmittel schnell haben. Ich sehe den Kuchen, will ihn haben und esse ihn, obwohl ich körperlich keinen Hunger habe. Viele können Hunger von Appetit nicht unterscheiden. Das zweite Problem ist, dass viele Menschen nicht mehr spüren, wann sie gesund satt sind.

Mit Diäten arbeitet man an sich vorbei, schreiben Sie in Ihrem Buch. Können Sie das erklären?

Diäten laufen rein nach Ernährungsplan ab, also rational auch im Gehirn. Emotional findet das Problem mit dem Essen aber in anderen Bereichen des Gehirns statt. Mit einer Diät auf der Vernunftsebene arbeite ich an den tieferen Ursachen komplett vorbei. Wenn die Emotionen wieder hochkommen, dann schaltet die Vernunft oft aus. Dieses Problem ist mit einer Diät, also Restriktionen, nicht lösbar. Das führt ja nur dazu, dass ich mir noch mehr verbiete, was wiederum schlechte Emotionen erzeugt.

Sie waren selbst betroffen und sind unter anderem mit dem Training für einen Triathlon da herausgekommen. Gibt es auch einen einfacheren Weg?

Ja, auf jeden Fall. Ich selbst bin eher ein Wettkampftyp, der Triathlon war eine persönliche Sache. Ich empfehle, mit moderatem Training zu beginnen, das zum eigenen Körper passt. Es geht darum, Bewegung oder Sport als Gewohnheit in den Alltag zu integrieren. Im Schnitt brauchen wir etwa 21 Tage, um eine neue Gewohnheit zu integrieren und 90 Tage, um sie zu festigen. Dann werden auch schon Veränderungen spürbar. Bei bestimmten Essgewohnheiten, die seit der Kindheit aufgebaut wurden, braucht es natürlich länger.

"Emotional Eating" von Dr. Kathrin Vergin, erschienen im Dezember 2022 im "Rowohlt Taschenbuch Verlag", lag der Redaktion vorab vor. ISBN 978-3-499-00454-4, 235 Seiten, 14 Euro

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