Rheda-Wiedenbrück. Bemerkenswert findet Volker Brüggenjürgen, Grüne, dass es erstmals ein Eingeständnis von Schuld seitens der Tönnies-Holding gibt. "Das ist eine Zeitenwende in der Betrachtungsweise, denn bislang war es die Strategie, nur von Einzelfällen bei Subunternehmern zu sprechen", spricht er von der Unterbringung der Werkvertragsarbeiter. Über die künftige Ausrichtung des Fleischwerks in der Kooperation mit Subunternehmen, Direktanstellung und Wohnungsvermittlung informierte Martin Bocklage, Geschäftsführer und Jusititiar bei Tönnies, im Sozialausschuss.
"Bis zum 31. Dezember verzichtet Tönnies auf Werkverträge", sagte er. Nur für Industriereinigung, Überwachung und Technik soll es die noch geben. Eine konkrete Zahl, wie viele Mitarbeitende zum Jahresende den Arbeitgeber gewechselt haben, gab es nicht. Im Oktober hat die Firma die ersten Mitarbeiter direkt angestellt. "Heute um Mitternacht sind es weitere 2.000 Mitarbeiter, die in unseren Betrieb übergehen", sagte der Geschäftsführer Montagabend. Die Einstellungen setzen sich nun im Wochentakt an allen Tönnies-Standorten fort, sprach Bocklage von einer "biblischen Herausforderung". Die bislang sehr heterogenen Vergütungsmodelle sollen in fünf Monaten durch eine "einheitliche Entlohnung", beispielsweise in einem Haustarifvertrag, abgelöst werden. Das Unternehmen führe "gute Gespräche" mit dem DGB und der GewerkschaftNahrung-Genuss-Gaststätten, ergänzte Thomas Dosch, Public Affairs bei Tönnies.
"Wir investieren einen ordentlichen mittleren Millionenbetrag"

Mit einem "gewissen Maß an Selbstkritik" gestand Bocklage, "dass wir uns bislang nicht ausreichend gekümmert haben" um die Unterbringung der Werkvertragsarbeiter. Das wertete Brüggenjürgen als Entschuldigung dafür, dass das Unternehmen "Auswüchse auf dem Wohnungsmarkt, auch Mietwucher" nicht eher gesehen habe. Bocklage räumte ein, dass "wir das Thema nicht so in den Fokus genommen haben, wie es offensichtlich notwendig gewesen wäre". Die Unterbringung der Werkvertragsarbeiter sei ausgeblendet und Dritten überlassen worden. Der Justitiar betonte: "Tönnies ist aber nicht verantwortlich für einzelne, abgerockte, privat vermietete Wohnungen."
Auf Nachfrage, warum sich das Unternehmen nicht längst um das seit Jahren bekannte Thema der Unterbringung der Werkvertragsarbeiter gekümmert habe, antwortete Unternehmenssprecher André Vielstädte: "Wir haben uns auch in der Vergangenheit immer dann gekümmert, wenn es zu konkrete Anfragen zu Immobilien oder Wohnsituationen gekommen ist." Jetzt sei Tönnies in der Situation, Mitarbeitern, die nicht privat wohnen, Wohnraum "zur Verfügung stellen zu müssen, um sie als Arbeitnehmer direkt anzustellen". Das seien 30 Prozent der Mitarbeitenden, denen ihre Arbeitgeber, also Subunternehmer, Wohnraum bereit gestellt hätten. "Wir investieren aktuell einen ordentlichen mittleren Millionenbetrag in den Immobilienbereich", so Vielstädte.
"Wohnraum zu einem vernünftigen Preis"
Zwei Wohnraumgesellschaften hat die Holding gegründet, erfuhr der Sozialausschuss. Einige Hundert Wohnungen seien bereits gemietet oder gekauft worden, in der Stadt und im Umland. Die Firma sei mit 28 Kommunen im Bereich Westfalen im Gespräch. "Wir sind mitten im Prozess, die Vermietungen weiterzugeben an unsere Mitarbeiter", so Bocklage. Bisherige Auswüchse wie Mietpreiswucher würden korrigiert. Wohnraum, "der nicht unseren Vorstellungen entspricht, wird entmietet", sprach er von einem robusten Vorgehen. Es seien "Dinge zutage getreten, die wir nicht gewusst haben und die wir nicht wollen". Das Fleischwerk wolle die Mitarbeiterfluktuation reduzieren. Die Leute sollen zufrieden sein. "Dazu gehört Wohnraum zu einem vernünftigen Preis", so Bocklage. Gedacht werde bei der Mitarbeiterbindung weniger an männliche Singles als daran, Familiennachzug zu ermöglichen.
Bisher hätten Subunternehmer Wohnen und Arbeiten gekoppelt, so Brüggenjürgen. Warum Tönnies diese bisher als negativ erlebte Verknüpfung fortführe? "Jetzt übernehmen wir Verantwortung und das ist wieder falsch", kommentierte Bocklage die Frage. Er erklärte, dass die Mitarbeitenden einen Arbeitsvertrag mit der einen und einen Mietvertrag mit einer anderen Firma hätten. Der Familie Tönnies "ist Nachhaltigkeit wichtig, wir kümmern uns richtig". Angekündigt worden war auch, dass das Unternehmen Wohnraum nach dem Lemgoer Modell schaffen will. Bis die ersten Häuser jedoch gebaut sein werden, könnten wegen der Genehmigungsverfahren noch 24 bis 36 Monate vergehen, sagte der Justitiar.
"Arbeitsmigration ist nicht nur Tönnies"
Wie viel Wohnraum konkret in Rheda-Wiedenbrück gesucht werde, fragte Uwe Henkenjohann, CDU. Zahlen nannte Bocklage nicht. Für die Stadt rechne Tönnies jedoch nicht mit einem "nennenswerten weiteren Zuzug". Der vorhandene Wohnraum werde anders verteilt: Weniger Leute bekämen mehr Quadratmeter. Doppelbelegungen eines Zimmers soll es nicht mehr geben. "Es sei denn, die Menschen sind verwandt oder wünschen das." Zudem werde eine stärkere Verteilung der Tönnies-Mitarbeiter in der Fläche angepeilt. Aktuell werde aus einem ehemaligen Schlachthofgelände in Beckum eine Wohnsiedlung. Eigentum hätten die Wohnraumgesellschaften in Stromberg, Beckum und Lette erworben. Die Mitarbeiter sollen mit einem konzessionierten Berufsverkehr zum Stammwerk gebracht werden. "Wir wollen alles so steuern, dass die Arbeitsmigranten zufrieden sind und unsere Volkswirtschaft stärken", sagte Bocklage.
Der Grüne Andreas Hahn teilte den vom Tönnies-Mitarbeiter "verbreiteten Optimismus" und sagte: "Auch wir wünschen uns sehr, dass alles Angekündigte Wirklichkeit wird." Er fragte, ob es am 1. Januar 2021 keine Subunternehmer mehr geben werde. Bocklage antwortete, dass einige in den Logistikbereich oder in den Fertigungsbereich anderer Branchen wechselten. Andere würden sich für die Personenbeförderung bewerben oder blieben in der Rekrutierung, "um Leute in ihren Heimatländern für uns anzuwerben". Bocklage sagte, dass das Fleischwerk da noch nicht über die notwendige Vernetzung verfüge. Er machte auch klar: "Arbeitsmigration ist nicht nur Tönnies, das geht über unser Unternehmen weit hinaus."
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