Sassenberg. In Dackmar ist die Welt noch in Ordnung. Hier sagen sich Kuh und Hase gute Nacht, gelegentlich zockelt ein Trecker über den holprigen Wirtschaftsweg. In der Ferne brüllt ein Rehbock. Doch die verträumte Landidylle trügt.
Die Menschen in Dackmar sind nur deshalb so entspannt, weil ihr Smartphone meistens schweigt. Der Handyempfang ist überaus schlecht - und der nicht vorhandene Breitbandausbau sorgt dafür, dass vermutlich niemand in Dackmar jemals diesen Artikel lesen wird.
In der Bauerschaft zwischen dem Harsewinkler Ortsteil Greffen und Sassenberg wohnen einige Landwirte und einige Senioren. Junge Leute trifft man entlang der B513 nur selten. Wer kann, ist nach dem Abi weg. Es gibt einige freistehende Häuser, dazwischen Äcker, Wälder, Kuhwiesen. Und vor allem: sehr wenig Internet. Die Bewohner behelfen sich mit Datenraten unter jeder Würde in völlig überteuerten DSL-Tarifen - oder mit etwas schnelleren Mobilfunk-Verträgen mit viel zu wenig Datenvolumen.
Dackmar ist vom digitalen Leben so weit entfernt wie eine Provinz-Reportage von Claas Relotius von der Realität. Und wo wir gerade bei Claas Relotius sind: Dackmar gibt es gar nicht. Zumindest, wenn es nach dem Internet-Riesen Google geht.
Lost in Dackmar
Die digitale Abgehängtheit betrifft die Bewohner des einsamen Landstrichs nämlich auch in der Offline-Realität. Denn der Kartendienst "Google Maps" verweigert umgehend beim Eintritt in das unerforschte Gebiet seinen Dienst. Wer in Dackmar eine Hausnummer sucht, landet mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auf einem Acker. Oder bei einem anderen Haus, das am völlig anderen Ende der Bauerschaft steht.
Viele Hausnummern sind vertauscht, manchmal existieren sie bei Google Maps sogar mehrfach. Andere Häuser wiederum haben gar keine Hausnummern. Erschwerend kommt hinzu, dass das 20 Quadratkilometer große Gebiet Dackmar seit jeher gleich zwei Orten angehört - nämlich Sassenberg und Warendorf. Hausnummern existieren darum schon seit der Gründung des Ortsteils Ende der Sechzigerjahre doppelt und verwirren Suchende vollends.
Glücklich schätzen kann sich, wer hinter dem Grenzstein im Kreis Gütersloh wohnt: Hier wird "Dackmar" zum "Tatenhauser Weg" - und die Nummerierung der Häuser scheint selbst bei Google Maps deutlich besser zu funktionieren.
Rettungswagen biegen falsch ab
Für die Bewohner der Bauerschaft ist all das nicht nur ärgerlich, sondern zum Teil auch lebensbedrohlich: Es habe hier schon, so erzählt man sich, Rettungswagen-Einsätze gegeben, bei denen die Rettungskräfte erst mit deutlicher Verspätung am Einsatzort ankamen - weil sie sich auf Google Maps verließen. Für die Betroffenen ging das bislang, zum Glück, glimpflich aus.
Doch auch in gewöhnlichen Alltagssituationen schränkt die schlechte Auffindbarkeit die Bewohner ein: Pakete kommen gar nicht oder nur sehr verspätet an, weil die Boten die richtige Adresse nicht finden. Taxifahrer verirren sich in der Prärie und müssen mit handnotierten Wegbeschreibungen wieder herausgeleitet werden - als wäre das Navi nie erfunden worden. Andere wiederum sind genervt, weil ständig Fremde an der Haustür klingeln und die richtige Adresse suchen.
Das Problem besteht fast ausschließlich beim Kartendienst von Google. Die Karten-App des Konkurrenten Apple findet Adressen auf Anhieb, ebenso aktuelle Navis von TomTom oder anderen namhaften Herstellern. Doch Google Maps gehört nun mal zu den meistgenutzten Karten-Apps der Welt - und inzwischen zum Standard-Repertoire eines jeden Smartphones (und damit auch Autos).
Wer ist Schuld?
Das bemerken auch die Landbewohner. Seit sich das Smartphone als Auto-Navi durchgesetzt hat, habe sich die Fehlerquote der Verirrten deutlich erhöht. Unzählige Versuche, das Problem auf eigene Faust zu beheben, scheiterten bislang. Gleich mehrere erboste Hausbesitzer richteten Mails an Google, einige nutzten auch die vorgesehene Korrektur-Funktion des Karten-Anbieters - ohne Erfolg. Die Hausnummern bleiben falsch - und eine Antwort von Google bleibt aus.
Doch ist Google überhaupt für das ganze Chaos verantwortlich?
Das Tech-Unternehmen verweist in seinen Credits auf die Kartendaten des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie (BKG). Hier bezieht der Kartendienst seine Grundinformationen, auf denen auch die Navigation in der App basiert. Haben am Ende die Behörden falsche Daten an Google geliefert?
"Nein", heißt es beim BKG. Google habe hier lediglich Roh-/Vektordaten des "sogenannten Basis-Landschaftsmodells) lizensiert", erklärt eine Sprecherin des Bundesamts auf Anfrage von nw.de. Die Daten stammten aus dem Jahr 2009. Diese Ursprungsdaten würden für den Dienst von Google "durch Weglassen oder Hinzufügen verändert."
Google reagiert nicht
Zudem seien in Google Maps viele Daten verschiedener Anbieter integriert. "Es ist also für uns nicht immer erkennbar, welche Informationen aus unseren Daten und welche aus anderen Quellen stammen", so die Sprecherin. Für die Fehler in Google Maps sei das BKG somit nicht verantwortlich - sondern der Kartenbetreiber.
Der allerdings hüllt sich weiter in Schweigen. Auf eine entsprechende Anfrage hat Google bislang nicht reagiert. Eine automatisierte, englischsprachige Mail der Pressestelle verweist auf die knappe Besetzung zwischen den Jahren.
Die Bewohner der Bauerschaft Dackmar bleiben somit weiter im Ungewissen. Sie hoffen nun, dass zumindest die Neujahrsgrüße per Post den Weg an die richtige Adresse finden. Dass dies nicht immer reibungslos klappt, wissen sie nur zu gut.