Versmold. An einem Laternenpfahl in der Versmolder Innenstadt klebt noch ein einzelnes Suchplakat. Ein DIN-A4-Zettel in Folie gehüllt, in Versalien steht oben "VERMISST", dann eine Personenbeschreibung und Schwarz-Weiß-Bilder eines Jugendlichen, darunter die Bitte, sich bei der Polizei zu melden. Die Witterung hat inzwischen Spuren hinterlassen, die Folie ist zerknickt, etwas Wasser ist hineingelangt. Passanten, die bei der Erledigung ihrer Einkäufe daran vorbeilaufen, nehmen den Zettel kaum wahr. Ein unauffälliges Suchplakat, womöglich von der Familie des Vermissten angebracht, auf das niemand mehr zu schauen scheint.
465 Meldungen enthält das zentrale Fahndungsportal der Polizei Nordrhein-Westfalen aktuell. Man muss weit zurückklicken, um auf den Versmolder Fall zu kommen. Am 26. Oktober 2022 war die Kreispolizeibehörde Gütersloh mit dem Verschwinden des Jugendlichen an die Öffentlichkeit gegangen. Seit mehr als einer Woche war der 14-Jährige da schon nicht mehr zu Hause aufgetaucht. "Obwohl er in jüngerer Vergangenheit öfter abwesend war, ist das längere Verschwinden ungewöhnlich", hieß es von der Polizei dazu.
Von Gefahren, die über das Alter hinausgehen, gingen die Beamten nicht aus - deswegen folgte die öffentliche Suchmeldung mit Personenbeschreibung und Bild erst mit zeitlichem Abstand zum Zeitpunkt des Verschwindens. An dieser Annahme hat sich auch nach einem Vierteljahr nichts geändert. Die Polizei geht davon aus, dass Alexander N. nichts zugestoßen ist und er sich freiwillig von zu Hause entfernt hat. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass sich der 14-Jährige in einer "gefährlichen Lage" befände, erneuert Katharina Felsch, Pressesprecherin der Kreispolizeibehörde Gütersloh, im Gespräch mit dem "Haller Kreisblatt" die Einschätzung. Das gelte auch für den gesundheitlichen Zustand des Jungen.
Spur nach Salzwedel ohne Erfolg
Einen konkreten Anhaltspunkt, wo sich der Versmolder aufhalten könnte, gibt es augenscheinlich nicht. Am 7. Dezember hatte die Polizeiinspektion Stendal eine zweite Öffentlichkeitsfahndung herausgegeben. Aktuelle Ermittlungen hätten ergeben, dass sich der Vermisste in Salzwedel aufhalten könnte, heißt es darin. Doch diese Spur hat zu keinem Auffinden des Jugendlichen geführt. Alexander ist bis heute untergetaucht.
Für Außenstehende stellt sich die Frage: Wie kann ein 14-Jähriger über einen so langen Zeitraum einfach verschwunden sein? Hinterlässt nicht jeder irgendwo zumindest digitale Spuren? "Wir haben alle polizeilichen Mittel ausgeschöpft", sagt Katharina Felsch angesprochen auf das bisherige Vorgehen. Jedem neuen Hinweis werde nachgegangen; der Name ist im polizeilichen System geführt. Mehr kann die Polizei im aktuellen Fall nicht unternehmen.
480 Vermisstenmeldungen sind im vergangenen Jahr bei der Polizei im Kreis Gütersloh eingegangen, in der Regel durch Angehörige. Das sind 22 Personen mehr als 2021. Insbesondere bei Jugendlichen kläre sich das Verschwinden in den allermeisten Fällen innerhalb weniger Stunden auf, so Felsch. "Meistens sind sie einfach abgehauen." Auch Alexander scheint zum Kreise der Ausreißer zu gehören - mit dem Unterschied, dass er nicht nach einigen Tagen wieder nach Hause gekommen ist.
So geht die Polizei bei Vermisstenmeldung vor
Das Bundeskriminalamt informiert auf seiner Internetseite zum allgemeinen Vorgehen bei Vermisstenangelegenheiten. Eine Person gilt demnach als vermisst, wenn sie "ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat, ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden kann".
Anders als Erwachsene dürfen Minderjährige ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. "Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen. Sie gelten für die Polizei bereits als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und ihr Aufenthalt nicht bekannt ist" heißt es. Je nach Fall werden Suchmaßnahmen eingeleitet.
Täglich werden bundesweit auf alle Altersgruppen bezogen etwa 200 bis 300 Fahndungen neu erfasst, etwa die gleiche Anzahl wird wegen Erledigung gelöscht. Erfahrungsgemäß klärten sich etwa 50 Prozent der Vermisstenfälle innerhalb der ersten Woche. Binnen Monatsfrist liegt die Quote bei mehr als 80 Prozent. Der Anteil jener Personen, die länger als ein Jahr vermisst werden, bewegt sich bei nur etwa drei Prozent, teilt das BKA mit.
Vielfältige Gründe fürs Verschwinden
Etwa die Hälfte aller Vermissten sind Kinder und Jugendliche. Für ihr Verschwinden gibt es die unterschiedlichsten Gründe, beispielsweise Probleme in der Schule, im familiären Umfeld oder Liebeskummer. Minderjährige werden, wenn die Polizei sie antrifft, so lange in staatliche Obhut genommen, bis eine Rückführung zum Sorgeberechtigten gewährleistet ist. Dabei handele es sich keinesfalls um eine Festnahme; die Maßnahme erfolge zum Schutz der Minderjährigen. So würde man auch im Fall von Alexander N. vorgehen.
Die "Inititiave vermisster Kinder" mit Sitz in Hamburg versteht sich als Anlaufstelle für betroffene Familien und betreibt unter anderem eine kostenfreie Hotline. "Wir wissen aus unserer Erfahrung, dass junge Menschen aus sehr unterschiedlichen Gründen ausreißen: Sie folgen anderen, zumeist älteren Personen oder auch Gruppen, weil sie eine Beziehung entwickelt haben und gleichzeitig in Abhängigkeit zu diesen stehen", schreibt der Verein auf seiner Internetseite.
Kinder und Jugendliche liefen außerdem davon, weil sie Opfer von Mobbing oder auch Missbrauch geworden sind. Sehr häufig stelle auch das Unglücklichsein an sich einen Beweggrund dar. "Manchmal findet sich der Beweggrund auch letztlich in dem grundsätzlichen Drang nach eigenen Freiräumen", heißt es weiter.
Auffälliger Hut als Markenzeichen
Aus welchen Gründen der 14-jährige Versmolder von zu Hause verschwunden ist und auch, wenn die Polizei augenscheinlich von keiner Gefahr ausgeht - die Sorge von Angehörigen und Freunden dürfte dennoch groß sein. Sie werden auf neue Hinweise zum Aufenthalt des Jugendlichen hoffen.
Folgendermaßen wird der Versmolder im Fahndungsportal der Polizei beschrieben: Alexander N. ist etwa 1,80 Meter groß und schlank. Er hat braune Augen und trug zuletzt dunkle Kleidung und einen schwarzen Fischerhut. Der Vermisste soll derzeit blondierte Haare haben.
Wer Hinweise zum Aufenthaltsort geben kann, wird gebeten, sich bei der Polizei Gütersloh unter Tel. 05241 869-0 oder bei jeder anderen Polizeidienststelle zu melden.
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