Der WochenkommentarDer schmale Grat zwischen Recht und Rechtsempfinden

Die Anordnung von Untersuchungshaft muss nicht zwangsläufig mit Freiheitsentzug einhergehen. Für die Angehörigen eines Opfers kann das belastend sein und bei vielen stößt dies auf Unverständnis.

Nicole Donath

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Der Grat zwischen Recht und Rechtsempfinden ist manchmal sehr schmal. Das haben die Gespräche und Diskussionen in dieser Woche gezeigt, als es darum ging, dass der Haftbefehl gegen einen 46-jährigen Haller bis auf Weiteres außer Vollzug gesetzt wurde.

Der Mann hatte Mitte Dezember nach einer Weihnachtsfeier einen Haller Familienvater laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bielefeld erst geschlagen und dann mit Anlauf unters Kinn getreten, so dass dieser seinen schweren Kopfverletzungen 14 Tage später erlag – seitdem befand er sich in Untersuchungshaft. Nach einem Haftprüfungstermin wurde nun entschieden, dass er sich gegen Leistung einer finanziellen Sicherheit sowie gegen Abgabe seiner Ausweisdokumente in Freiheit aufhalten darf. Ein Sprecher des Landgerichtes Bielefeld erläuterte die Entscheidung auf Basis der Gesetze – ganz sachlich, gänzlich frei von Emotionen.

Einen Haftprüfungstermin müsse man grundsätzlich losgelöst von der noch folgenden Hauptverhandlung sehen: „Es geht dabei nicht um die Schwere der Tat", betonte der Jurist. Vielmehr seien hier die entscheidenden Fragen, ob Fluchtgefahr bestehe oder es wahrscheinlich sei, dass der Beschuldigte die gleiche Tat noch einmal begehe – und beide wurden mit Nein beantwortet.

Die Vorstellung, dass sich die Beteiligten begegnen, macht betroffen

Redaktionsleiterin Nicole Donath - © Nicole Donath
Redaktionsleiterin Nicole Donath (© Nicole Donath)

Dass in diesem Fall alle Beteiligten – die Familie des Opfers einerseits sowie der Beschuldigte und dessen Familie andererseits – in derselben Kleinstadt wohnen und die Wahrscheinlichkeit einer persönlichen Begegnung noch vor einem Urteilsspruch nun sehr hoch ist, zählt dabei nicht. Genau diese Vorstellung ist es jedoch, die die Menschen hier beschäftigt und sehr betroffen macht. Wir haben in der Redaktion darüber gesprochen, auch zu Hause war es Thema: Wie gehen die Beteiligten mit dem Wissen um, dass sie nun aufeinandertreffen können? Bestimmte Läden und Lokalitäten von vorneherein meiden?

Sich im Vorfeld damit befassen und zumindest in der Theorie eine Strategie dafür entwickeln, wie man sich verhalten könnte, wenn der Augenblick kommt? Zusätzlich zur Trauer eine sehr große Belastung. Ein Blick auf die Kommentare, die unsere Leserinnen und Leser angesichts der Entscheidung des Gerichtes gepostet haben, unterstreicht vor allem das überwiegend vorherrschende Unverständnis: „Da soll einer die deutsche Justiz verstehen", heißt es da. Oder „Geht gar nicht, ich bin sprachlos." Oder „Für mich völlig unverständlich". Nur eine Minderheit beschwichtigt und verweist darauf, dass es in Deutschland immer noch eines rechtskräftigen Urteils bedürfe, bevor man selbst urteilen könne.

Ein Sprecher des Landgerichtes sieht zwar durchaus die Herausforderung, fügt aber auch an: „Eines Tages kommt der Augenblick, da die beteiligten Parteien sich begegnen, wahrscheinlich so oder so – so belastend das ist." Und das ist dann eben der Unterschied zwischen Recht und Rechtsempfinden.

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