Der Wochenkommentar"Die Menschen wollen mitreden!": Wie Bürger die Politik beeinflussen

Im Altkreis Halle bilden sich immer mehr Bürgerinitiativen. Die Menschen sind interessiert daran, was vor ihrer Haustür passiert. Warum das Chance und Risiko zugleich ist, kommentiert unser stellvertretender Redaktionsleiter Marc Uthmann.

Marc Uthmann

Mit Nachdruck protestierten die Anlieger der Alleestraße in Halle gegen Umbaupläne. Archivfoto: Marc Uthmann - © Marc Uthmann
Mit Nachdruck protestierten die Anlieger der Alleestraße in Halle gegen Umbaupläne. Archivfoto: Marc Uthmann © Marc Uthmann

• Die Menschen wollen mitreden, wenn vor ihrer Haustür etwas passiert. Sie lassen Veränderungen nicht mehr einfach über sich ergehen, sondern engagieren sich. Immer häufiger auch im Altkreis über Bürgerinitiativen.

• Parteien hingegen scheinen nicht mehr so wie früher in der Bevölkerung anzukommen. Dass die Menschen sich jetzt auf andere Art Gehör verschaffen, ist dennoch eine Chance für die Demokratie vor Ort. Aber auch mit einer Verpflichtung verbunden: Sonst droht Stress!

Birgit Lutzer ist wieder da! Die umtriebige Steinhagenerin meldet sich mit einer Initiative zurück: „Bürger mit Wirkung". Ihr Ziel: Die Menschen sollten rechtzeitig Wind bekommen von den wichtigen Themen in der Gemeinde und sich einbringen können.

Dem klassischen Politikbetrieb traut Lutzer das offenbar nicht mehr zu. Bemerkenswert, saß sie doch selbst schon für die CDU im Rat und engagierte sich für die Unabhängige Wählergemeinschaft (UWG). Doch so richtig wohl im klassischen Parteiensystem fühlte sich die eigentlich Politikbegeisterte offenbar nie – und das, obwohl sie doch in jenen Gremien saß, in denen die Entscheidungen fielen. Ihr Vorstoß fällt in politisch bewegte Zeiten in der Gemeinde: Eine Anwohnergemeinschaft zieht mit einer Klage gegen die Pläne für eine neue Gewerbehalle an der Waldbadstraße zu Felde, trotz laufenden Schlichtungsverfahrens fliegen weiter die Fetzen. Der Investor hat nach der heftigen Kritik wie berichtet eine Anpassung seiner Pläne vorgenommen – trotzdem scheint eine Einigung nach dem jüngsten Stress im Bauausschuss in weiter Ferne.

Bürgerinitiativen können Dinge verändern

Allem Ärger zum Trotz: Auch dieser Fall zeigt wieder, dass Bürgerinitiativen in der Lage sind, Dinge zu verändern, Kompromisse zu erzwingen, kurz: ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Kann die klassische Kommunalpolitik das nicht mehr? Friederike Hegemann könnte hier eigentlich als Gegenbeispiel zum Modell Birgit Lutzer dienen. Die Künsebeckerin engagiert sich über die örtliche Interessengemeinschaft bereits leidenschaftlich für ihren Ort – und ließ sich als Grüne dennoch zusätzlich in den Stadtrat wählen. Allerdings hatte sie zuvor lange mit diesem Schritt gehadert. Nicht zuletzt aus Sorge, ihre Überparteilichkeit zu verlieren.

Marc Uthmann

Redakteur - © Nicole Donath, HK,HK
Marc Uthmann
Redakteur (© Nicole Donath, HK,HK)

Denn diese Freiheit vom System der Fraktionen, Abstimmungen und politischen Deals macht Bürgerinitiativen so attraktiv. Menschen bekommen das Gefühl, sich wieder direkt am demokratischen Prozess beteiligen zu können. Haben Räte und Ausschüsse also ausgedient? Funktionieren die klassischen Rezepte der Kommunalpolitik nicht mehr?

Das muss keinesfalls so sein – im Gegenteil. Die Bürgerinitiativen bereichern den politischen Prozess im Idealfall. Sie zeigen den Entscheidungsträgern in Stadt- und Gemeinderäten Stimmungen auf, liefern Argumente. Bestes Beispiel hierfür dürfte die Bürgerinitiative Alleestraße sein. Sie kämpfte erfolgreich für eine Verschiebung des Endausbaus ihrer Straße und brachte sich über Jahre in den politischen Prozess ein.

Argumente der Bürger beleben politische Debatte

Entscheidend ist: Sie tut es noch! Hätten Helmut Rose und Co. aufgehört, als ihr persönlicher Erfolg sichergestellt war, wären ihre Motive als ausschließlich eigennützig enttarnt worden. Doch die BI Alleestraße macht weiter, fordert unermüdlich einen Generalverkehrsplan für Halle und streitet wacker für eine weiterhin autofreundliche Innenstadt. Darin findet sie bei CDU und FDP in Halle Mitstreiter – und die Auseinandersetzung über dieses Thema belebt die Debatte.

Auch in Borgholzhausen ist dieses Phänomen zu beobachten: Die Initiative gegen eine 380-kV-Freileitung verbuchte mit einer teilweisen Erdverkabelung durch Amprion zunächst einen großen Erfolg. Dann erwuchs ihr in Piumer Landwirten plötzlich eine Gegenbewegung, die mit Kabeln im Boden so gar nichts anfangen können. Aufgabe der Politik ist es, diese Positionen zu bewerten und dann abwägend im Sinne der Menschen zu agieren und wenn möglich: zu entscheiden.

Bürgerinitiativen sind dann wertvoll, wenn sie gesellschaftliche Ziele verfolgen. Auf der anderen Seite laufen sie stets Gefahr, das „Nimby-Etikett" verpasst zu bekommen. Nimby steht für „Not in my backyard" – „Nicht in meinem Hinterhof". Demnach geht es ihnen gar nicht um die beste Lösung, sondern nur darum, einen Bau, eine Straße oder die Müllverbrennungsanlage in direkter Nachbarschaft zu verhindern.

Einfach nur dagegen reicht bei Initiativen nicht

Einfach nur dagegen reicht bei Initiativen nicht. Auch die Anwohner der Waldbadstraße sind also gefordert, weiter konstruktiv an einem Kompromiss mitzuarbeiten. Und der wird auf Gewerbe hinauslaufen – denn das war schon immer dort angesiedelt.

Derweil taucht die nächste große Herausforderung für konstruktive Bürgerbeteiligung schon am Horizont auf: Die Energiewende wird einen Ausbau der Windkraft mit sich bringen. Wer sich an die Proteste in Werther und Häger gegen solche Projekte erinnert, kann sich die nächsten Auseinandersetzungen lebhaft vorstellen. Politik, Initiativen und Interessenvertreter werden dann mehr denn je gefordert sein, im Sinne der Gesellschaft zu streiten.

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