Er pfeift ihr hinterher und macht eine Bemerkung über ihre Figur ... Eine Situation, die sicher klassisch für das sogenannte Catcalling (zu Deutsch: Katze-Rufen) ist. Da könnte man sich fragen: Ist das denn so schlimm? Ist das nicht vielleicht auch ein Kompliment?
Elisa Fraaß: Nein, denn das Ganze wird gegen den Willen der Frauen geäußert. Es handelt sich um eine Grenzüberschreitung in der Privat- und Intimsphäre. Vor allem, wenn man bedenkt, dass solche Situationen oft zwischen Unbekannten passieren. Bei den Betroffenen löst dieses Catcalling unangenehme Gefühle aus: Sie haben Angst, schämen oder ekeln sich, sie können wütend werden oder sich hilflos und machtlos fühlen. Das sind alles keine Gefühle, die mit dem vergleichbar wären, was ein Kompliment auslöst. Die Reaktion der Frauen ist entscheidend. Wenn sie sagen, etwas war grenzüberschreitend, dann war es das auch. Ganz egal, wie der Sender dieser Nachricht das gemeint hat. Catcalling ist also definitiv kein Kompliment. Betroffene leiden manchmal Stunden oder Tage darunter. Auch wenn einem körperlich nichts passiert, macht es etwas mit den Frauen. Eine psychische Belastung ist nicht weniger schlimm als eine körperliche. Das zeigt, wie enorm die Wirkung von Catcalling ist.

Wie definieren Sie Catcalling konkret?
Es ist eine Form von sexueller Belästigung, die vor allem im öffentlichen Raum und in verbaler Form auftritt. Oft passiert es auf der Straße, aber auch in der Schule oder im Arbeitskontext kommt das vor. Dazu zählen beispielsweise anzügliche Sprüche. Oder auch das Anpfeifen oder Anhupen. Sogar anstarren kann eine Belästigung sein. Das kann sogar ausufern – in Aufforderungen zu sexuellen Handlungen oder Verfolgungen. Bis hin zur körperlichen Ebene.
„Catcalling hat etwas mit Macht zu tun"
Definitiv heikel und trotzdem ein Alltagsphänomen... Aber warum passiert das so oft?
Weil unsere Gesellschaft diese Form der Diskriminierung normalisiert. Ich glaube, dass jede oder fast jede Frau bereits Catcalling erlebt hat. Durch meine Arbeit habe ich jedoch gelernt, dass manchen Frauen erst durch den Austausch mit anderen klar wird, dass sie verbal belästigt wurden. Catcalling wird in unserer Gesellschaft so stark normalisiert, dass es nicht einmal von manchen Betroffenen als Problem wahrgenommen wird. Wenn die eigenen Grenzen immer wieder überschritten werden, empfindet man es irgendwann nicht mehr als etwas Besonderes. Oder man ist sogar gehemmt, es anzusprechen, weil man vielleicht nicht ernstgenommen wird. Dadurch wird die Hemmschwelle, Belästigungen anzuzeigen, immer größer. Das Schlimme daran ist das Gefühl, dass es mir ständig passieren kann. Das ist eine Riesenbelastung. Viele Frauen gehen mit dem Gefühl durch die Straße, da kommt gleich was – und oft haben sie recht.

Wie können Mädchen und Frauen darauf reagieren? „Müssen" sie sich mehr wehren?
Es ist berechtigt, sich zu wehren – auch laut. Und das muss nicht nett und freundlich sein. Jede Reaktion ist in Ordnung beziehungsweise es gibt kein Richtig oder Falsch. Wie man sich verhält, kann von der Tagesform oder Situation abhängen. Mach das, womit du dich wohlfühlst! Manche zeigen schweigend die kalte Schulter, andere den Mittelfinger. Oder man wird kreativ und verwirrt den Täter, indem man ihn zum Beispiel anbellt, wenn er hinterherpfeift. In der Öffentlichkeit kann man auch andere Personen auf der Straße involvieren, indem man sie direkt anspricht und um Unterstützung bittet – vielleicht fragt, ob sie das auch gehört haben. Wichtig ist aber, dass die Verantwortung nicht bei den Betroffenen liegt. Es ist zwar hilfreich, sich neue Handlungsstrategien anzueignen, um damit reagieren können – aber Frauen sind nicht diejenigen, die ihr Verhalten ändern müssen. Damit Catcalling nicht mehr passiert, dürfen Männer nicht mehr catcallen.

Was vermuten Sie, was diese Männer antreibt?
Catcalling hat etwas mit Macht zu tun. Das muss den Männern aber nicht zwangsläufig bewusst sein. Unsere Gesellschaft ist durch bestimmte Herrschaftsverhältnisse geprägt. Es gibt Gruppen, die darunter leiden, andere profitieren. Dazu zählen auch Strukturen wie Sexismus. Das bedeutet nicht, dass es zwei Schubladen gibt, sondern ein weit gefächertes Spektrum zwischen Diskriminierten und Privilegierten. Gerade Männer, die innerhalb dieses Systems eine hohe Machtposition haben, wollen diese natürlich beibehalten – denen gehört gefühlt die Welt, das wollen sie nicht aufgeben.Es braucht aber verschiedene soziale Praxen, um Systeme aufrechtzuerhalten – zum Beispiel Gewalt. Ich finde, Catcalling ist eine Form von Gewalt, auf die auch körperliche Gewalt folgen kann. Catcalling dient dem Erhalt der sexistischen Machtverhältnisse – das zeigt sich an der Wirkung auf Frauen: Sie fühlen sich machtlos, Männer hingegen senden die Botschaft: Ich zeig dir, dass ich die Macht habe, das mit dir zu tun– und du kannst nichts dagegen tun.
Das klingt gefährlich ...
Catcalling als recht alltägliche Form von Gewalt ist grundlegend dafür, dass die Gewalt an Frauen nach wie vor normalisiert wird. Indem Männer catcallen, leiten sie die ersten Schritte dazu ein. Das Problem ist, dass es nicht problematisiert oder skandalisiert wird. Dass da nichts passiert, obwohl damit die Frauen dauerhaft abgewertet werden. Hier wird die Grundlage für eine Gewalt geschaffen, die bis in den Tod von Frauen gipfeln kann. Deshalb ist Catcalling keine Kleinigkeit, die man herunterreden kann.

Geht es immer nur um Macht? Kann nicht auch Unwissenheit zu diesem Verhalten führen?
„Ich glaube, es ist vielen nicht bewusst, oder sie denken: Männer dürfen das – das ist es, was unsere sexistische, patriarchale Gesellschaft vermittelt. Vielleicht denken manche Männer tatsächlich, dass Catcalling ein Kompliment ist – aber ich denke mir: Du sprichst doch andere Männer auch nicht so an. So wie du mit Männern umgehst, solltest du auch mit Frauen reden. Aber Hinterherpfeifen oder zu fragen „Hast du Bock zu f* ...?" ist doch kein Kompliment. Aber aufgrund der Normalisierung wird so ein Verhalten nicht als problematisch wahrgenommen oder sogar Kompliment gerechtfertigt.
Also vorsichtshalber keine Komplimente mehr?
Die Frage kommt oft – nach dem Motto: Darf ich jetzt gar nichts mehr sagen? Es wird niemandem etwas verboten. Die Botschaft lautet: Verhalte dich mir gegenüber respektvoll. Du darfst alles sagen, wenn du respektvoll bleibst. Doch wenn du nicht respektvoll bist, dann darfst du auch nichts mehr zu mir sagen.
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Worauf sollten Männer außerdem achten?
Es klingt so banal: Aber verhalte dich einfach nicht grenzüberschreitend und respektiere die Grenzen anderer Menschen. Pfeifen, hupen ... Lass es einfach sein! Das ist übergriffig und fühlt sich ekelig an. Beschäftige dich mit Sexismus und der eigenen Männlichkeit. Reflektiere deine Privilegen. Hinterfrage dich selbst. Und höre Betroffenen zu, ohne das runterzuspielen. Denn wenn ich mit Männern darüber spreche, kommt es oft vor, dass sie das relativieren. Ich persönlich finde das so anstrengend, erst einmal erklären zu müssen, wie schlimm meine eigene Erfahrung ist. Doch wenn Männer zuhören, dann bekommen sie mit, was Frauen in ihrem Umfeld erleben – ihrer Freundin, der Schwester ... Ich glaube, das ist etwas, was Männer abholt. Und dann geht es auch darum, selbst Arbeit zu leisten: Wenn Männer Sexismus beobachten, sollten sie einschreiten und etwas dagegen sagen. Auch bei sexistischen Witzen sollten sie klarstellen, dass das nicht witzig ist und damit Verantwortung übernehmen. Gut wäre auch, wenn Männer untereinander über Sexismus reden – so wie es bei Frauen auch oft üblich ist.

Wäre das die Lösung? Oder was müsste noch passieren?
Wir müssten insgesamt mehr darüber sprechen. Über Diskriminierung, über Sexismus, über unsere Rollen in diesem System. Was hat das für Folgen für Betroffene, wie fühlt sich das für sie an? Und wir müssen anerkennen, dass Catcalling Grenzüberschreitungen sind. Diese Aufklärungsarbeit wäre gesellschaftlich sehr wichtig.
Austausch ist also das Stichwort. Da kommen dann auch Ihre Workshops ins Spiel?
Ja, langfristig hilft es vielen Betroffenen, sich in einem geschützten Raum auszutauschen, wie in meinen Workshops, in denen ich mit Frauen exemplarische Situationen bespreche. Dabei zeigt sich, dass man nicht allein ist. Es ist eine kollektive Erfahrung – was eigentlich richtig schlimm ist, dass so viele Frauen betroffen sind. Aber das kann auch bestärken. Wir können uns verbünden und kollektiv dagegen ankämpfen.
Zur Person
Elisa Fraaß studiert an der Universität Münster Erziehungswissenschaften im Master.
Nach einem Praktikum in der Integrationsagentur und Antidiskriminierungsstelle der AWO im Kreis Gütersloh hat sie ein pädagogisches Konzept zum Thema Catcalling entwickelt, das auch in Versmold bereits durchgeführt wurde.
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