Es war um 18.58 Uhr am 30. September 1989, als der Krankenhausbunker Dissen beinahe seine ganz eigene historische Stunde erlebt hätte. Als der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag sagte: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise" – hier unterbrach ein jubelnder Aufschrei aus Tausenden von Kehlen seine Rede, die er mit der Feststellung „in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist" fortsetzte, da sah es für einen Moment so aus, als wären die Millioneninvestitionen in den Untergrund von Borgholzhausens Nachbarstadt wenigstens nicht völlig vergeblich gewesen.

Denn schon Stunden vor dieser Rede begannen in der damaligen Bundesrepublik die Vorbereitungen auf die Stunde X, in der die DDR ihre Grenzen für Ausreisewillige öffnen würde. Es war klar, dass Tausende von Menschen innerhalb weniger Stunden in den Westen kommen würden. Fieberhaft wurde nach ersten Unterbringungsmöglichkeiten gesucht und deshalb geriet auch das im Prinzip funktionsfähige, völlig leerstehende Militärkrankenhaus Dissen ins Blickfeld. Stundenlang wurde die geheimnisumwitterte Einrichtung auf die Ankunft von einigen hundert Menschen vorbereitet, bis die Entscheidung fiel, dass die Unterbringung in einem Bunker den Menschen kein gutes Signal für ihre ersten Tage im ersehnten Westen abgegeben hätte. Stattdessen wurden für die Neuankömmlinge Notunterkünfte in Kasernen errichtet.
Aus für die DDR war besiegelt
Vielleicht war dem ein oder anderen nach diesem Tag schon klar, dass mit der Ausreiseentscheidung das Aus für die DDR nahezu besiegelt war. Und dass damit auch das Ende des Kalten Krieges unweigerlich kommen würde. Die historische Wende des Jahres 1989 machte auch das offiziell so bezeichnete »Hilfskrankenhaus Dissen« überflüssig. Es war erst am 22. März 1988 offiziell seiner Bestimmung übergeben worden.
1973 hatten die Bauarbeiten nach langen Vorplanungen begonnen. Dissen war nur einer von 22 Orten in der Bundesrepublik, an denen es die sogenannten Hilfskrankenhäuser gab. Im Volksmund sprach man gern vom „geheimen Militärkrankenhaus", obwohl die Anlagen eigentlich nicht geheim waren. In Dissen wurde in direkter Nachbarschaft einer Siedlung gebaut. Die Hilfskrankenhäuser dienten ganz offiziell dem Zweck, in einem Verteidigungsfall zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten zu bieten, „wenn die in den normalen Akut-Krankenhäusern vorhandenen Möglichkeiten bei einem Massenanfall von Verletzten zu deren Versorgung nicht ausreichen sollten. Sie sind von ihrer gesetzlichen Bestimmung her grundsätzlich für eine zivile Nutzung vorgesehen", heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine »Kleine Anfrage« der Grünen aus dem Jahr 1995. Und weiter: „Das schließt allerdings nicht aus, dass in einem akuten Bedarfsfall auch Angehörige der Streitkräfte dort versorgt werden."
Nicht atombombensicher
„Das war hier kein atombombensicherer Bunker", sagt Michael Wojak, der das Gebäude wohl am besten kennt. Er ist Hausmeister am Schulzentrum Dissen und sorgt dafür, dass das ehemalige Krankenhaus zumindest einigermaßen in Schuss bleibt. Der größte Feind der Anlage ist Wasser, das immer mal wieder eindringt. Klimageräte und Wojaks Suche nach Lecks sorgen dafür, dass der Bunker seine derzeitige Funktion als Lagerraum für Akten und Schulmaterial weiterhin gut erfüllen kann.
Gelegentlich führt der bestens mit der Geschichte des Bauwerks vertraute Hausmeister auch Besucher durch die unterirdischen Anlagen. Geduldig erklärt er die aufwendige Luftfilteranlage, die eigene Trinkwasserversorgung durch einen fast 100 Meter tiefen Brunnen und zeigt die besondere Küche und die beiden großen Schiffsdiesel, die als Notstromaggregate dienen sollten und bis heute funktionsfähig sind.
Schleuse für radioaktiv Verseuchte
Einer der Höhepunkte seiner Führung kommt gleich am Anfang: Im absichtlich verwinkelt gebauten Eingangsbereich, noch vor der schweren Bunkertür, gibt es eine rote, etwa einen Meter hohe Metallklappe, über der in roten Buchstaben »Nicht öffnen« steht. Dahinter verbirgt sich ein Raum mit besonders starken Betonwänden und zwei Klappen kurz unter der Decke einer Seitenwand. Diese Klappen lassen sich vom Bunkerinneren aus öffnen – und zwar aus dem Raum, in dem radioaktiv verseuchte Ankömmlinge ihre Sachen ausziehen und durch die Klappe in den Extra-Bunker befördern sollten. Direkt anschließend finden sich die Duschen, in denen radioaktive oder giftige Teilchen, die Neuankömmlinge mit in den Bunker gebracht hätten, so schnell und gründlich wie möglich entfernt werden sollten. Wer im Ernstfall darüber entschieden hätte, welche Menschen in den Bunker kommen durften und welche nicht, ist nicht bekannt. Ärzte und anderes medizinisches Personal sollten aus dem inzwischen ebenfalls geschlossenen Dissener Krankenhaus zwangsverpflichtet werden. Entsprechende Vereinbarungen standen in ihren Arbeitsverträgen.
Inzwischen ist das alles ebenso wie das Hilfskrankenhaus längst Geschichte. Die Einrichtung der Operationssäle, die Betten – fast das gesamte bewegliche Mobiliar wurde in Krisenregionen irgendwo auf der Welt abgegeben. 9,431 Millionen D-Mark hat das Bauwerk nach den Angaben der Bundesregierung gekostet. Dass es sich im Nachhinein als komplette Fehlinvestition herausgestellt hat, ist bei einigem Nachdenken vielleicht das Beste, was sich über das geheime Militärkrankenhaus in Dissen sagen lässt.